Seite:Ueber die Liebe 130.jpg

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zu denken, wenn man zwanzig Schritte vom Feind entfernt auf Vorposten steht.

Ich habe unaufhörlich wiederholt, daß einem aufrichtig liebenden Manne alle Gebilde seiner Phantasie entweder Genuß oder Furcht einflößen, während es in der Natur nichts für ihn gibt, das ihm nicht von der Geliebten spricht. Nun aber sind Genuß und Furcht Beschäftigungen, die uns ganz in Anspruch nehmen und vor denen alle anderen verblassen.

Ein Freund, der dem Liebeskranken Heilung verschaffen will, muß sich vor allem immer auf die Seite der geliebten Frau stellen. Aber Freunde, die mehr Eifer als Geist besitzen, schlagen gewöhnlich den entgegengesetzten Weg ein. Mit lächerlich ungleichen Waffen greifen sie jenes Werk lieblicher Illusionen an, das ich Kristallbildung genannt habe.

Der helfende Freund muß im Auge behalten, daß ein Liebender, dem man das Unglaublichste zu glauben zumutet, es entweder ruhig hinnehmen oder auf alles, was ihn ans Leben kettet, verzichten muß. Er wird alles anhören und doch, wenn er noch so geistvoll ist, die offenkundigsten Laster und die schlimmste Untreue der Geliebten in Abrede stellen. Darum ist in der Liebe aus Leidenschaft nach kurzer Zeit alles verzeihlich.

Bei Verstandesmenschen und kalten Naturen müssen erst mehrere Monate der Leidenschaft vergangen sein, ehe sie Fehler bemerken dürfen und ruhig hinnehmen.

Der heilende Freund darf den Liebenden keinesfalls auf grobe und deutliche Art zu zerstreuen suchen, er muß vielmehr bis zum Überdruß von seiner Liebe und seiner Geliebten sprechen und gleichzeitig dicht

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 130. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_130.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)