Seite:Ueber die Liebe 131.jpg

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um ihn herum eine Menge kleiner Ereignisse sich abspielen lassen. Eine weite Reise ist kein Heilmittel, denn nichts erinnert zarter an die Geliebte, als Gegensätze. Gerade in den glänzendsten Salons in Paris, mitten unter den ob ihres Liebreizes gerühmten Frauen habe ich meine arme einsame trauernde Geliebte in ihrem armseligen Hause fern in der Romagna am glühendsten geliebt.

Ich erspähte auf der kostbaren Stutzuhr des glänzenden Salons, in den ich verbannt war, die Stunde, wo sie zu Fuß und im Regen ausging, um ihre Freundin zu besuchen. Während ich sie zu vergessen suchte, machte ich die Beobachtung, daß Gegensätze die Quelle von Erinnerungen sind, die wohl weniger lebhaft, aber viel himmlischer sind, als die an Orten, wo man der Geliebten einstmals begegnet ist.

Wenn die Abwesenheit etwas nützen soll, muß der heilende Freund immer zur Stelle sein und den Liebenden auf alle möglichen Gedanken über die Ereignisse seiner Liebe bringen. Er muß diese Gedanken durch ihre Länge oder durch ihren ungünstigen Zeitpunkt langweilig zu machen und ihnen sozusagen die Wirkung eines Gemeinplatzes zu geben suchen; zum Beispiel, indem er nach einem fröhlichen Mahle bei gutem Wein plötzlich wehmütig und gefühlvoll wird.

Darum ist es so schwer, eine Frau, bei der wir glücklich waren, zu vergessen, weil es gewisse Augenblicke gibt, die unsere Phantasie unermüdlich immer wieder zurückruft und vergoldet.

Ich spreche nicht vom Stolze, diesem grausamen und allmachtigen Heilmittel; es steht zarten Seelen nicht zu Gebote.


Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 131. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_131.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)