Seite:Ueber die Liebe 134.jpg

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würde sie, selbst wenn er sie begründet fände, durch die Macht der Einbildung doch hinfällig werden und bald ganz vergessen sein. Nur die Phantasie kann sich selbst Trotz bieten. Heinrich der Dritte wußte das sehr gut, als er die berühmte Herzogin von Montpensier verleumdete.

Wenn man ein junges Mädchen vor der Liebe bewahren will, muß man also hauptsächlich seine Phantasie behüten. Je höher sein Geist, je edler und großmütiger seine Seele, je mehr es – mit einem Wort – unserer Achtung wert ist, um so größerer Gefahr geht es entgegen.

Es ist immer für ein junges Wesen gefährlich, wenn man duldet, daß sich seine Erinnerungen zu häufig und mit zuviel Wohlgefallen an einen bestimmten Menschen heften. Wenn Dankbarkeit, Bewunderung oder Neugierde die Fäden der Erinnerung fester knüpfen, so ist das Verderben fast unabwendbar. Je langweiliger das alltägliche Leben ist, um so wirksamer sind die Gifte, die Dankbarkeit, Bewunderung und Neugierde heißen. Dann hilft nur eine schnelle, rechtzeitige und energische Zerstreuung.

Daher ist ein wenig Rauheit und Sichgehenlassen beim ersten Zusammentreffen, auf natürliche Weise verabreicht, das sicherste Mittel, sich bei einer geistvollen Frau Respekt zu verschaffen.

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 134. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_134.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)