Seite:Ueber die Liebe 140.jpg

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„In Frankreich sind große Leidenschaften ebenso selten, wie große Männer.“ (Meilhan.)

Es fehlt der französischen Sprache an Wörtern, um auszudrücken, wie durchaus unmöglich für einen Franzosen die Rolle eines verlassenen Liebhabers ist, dessen Schicksal und Verzweiflung die ganze Stadt kennt und teilnehmend verfolgt. In Venedig und Bologna ist das nichts Ungewöhnliches.

Wenn man in Paris Liebe finden will, so muß man zu den Klassen niedersteigen, wo die Energie durch den Mangel an Erziehung und Eitelkeit und den Kampf um die wirklichen Bedürfnisse des Lebens noch nicht so gebrochen ist.

Eine große, ungestillte Sehnsucht verraten, heißt eine Niederlage eingestehen, ein Bekenntnis, das in Frankreich ganz unmöglich wäre und nur unter ganz gewöhnlichen Leuten vorkommt; man würde sich dadurch allerlei schlechten Witzen aussetzen. Daher das übertriebene Lob der Dirnen im Munde der französischen Jugend, die sich vor ihrem eigenen Herzen fürchtet. Die maßlose, plumpe Angst, sich unter seiner Würde zu zeigen, ist das leitende Element der Unterhaltung der Provinzialen. Es ist historisch, daß einer, der die Ermordung des Herzogs von Berri als Neuigkeit hörte, die Antwort gab: „Das wußte ich schon“, – nur aus Furcht, dem, der etwas Neues erzählt, eben dadurch nachzustehen.

Im Mittelalter stählte die Gegenwart der Gefahr die Herzen. Wenn ich mich nicht irre, liegt hierin ein Grund für die erstaunliche Überlegenheit der Männer des sechzehnten Jahrhunderts. Die Originalität, bei uns selten, lächerlich, gefahrvoll und häufig unnatürlich,

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 140. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_140.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)