Seite:Ueber die Liebe 141.jpg

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war damals alltäglich und ungeschminkt. Länder, wo die Gefahr noch heute mit eiserner Hand droht, wie Corsica,[1] Spanien und Italien, bringen immer noch große Männer hervor. In diesen Himmelsstrichen, wo die Glut der Sonne während dreier Monate im Jahre die Galle reizt, fehlt es meist nur an der Verwendung der Spannkraft, in Paris fehlt diese Spannkraft selbst.

Viele unserer jungen Leute, die sonst in Montmirail und im Bois de Boulogne so unternehmungslustig sind, fürchten sich vor der Liebe, und aus richtiger Verzagtheit meiden sie den Anblick eines jungen Mädchens, das sie hübsch finden. Wenn sie daran denken, was in Romanen als Pflicht eines Liebenden bezeichnet wird, sind sie starr. Diese kalten Seelen verstehen nicht, daß der Sturm der Leidenschaft, der die Wogen im Meer aufjagt, auch die Segel des Schiffes schwellt und ihnen die Kraft verleiht, den Sturm zu besiegen.

Die Liebe ist eine köstliche Blume, aber man muß den Mut haben, sie am grausigen Rand eines Abgrundes zu pflücken. Außer der Lächerlichkeit sieht die Liebe immer das Schrecknis, von der Geliebten verlassen zu werden. Dann bleibt für das ganze Leben nichts übrig, als ein „dead blank“.

Die Vollkommenheit der Kultur würde darin bestehen, die feinen Genüsse des neunzehnten Jahrhunderts mit häufigeren Gefahren zu vereinen. Die Genüsse des Privatlebens müßten sich ins Unendliche steigern, je häufiger man sich der Gefahr aussetzte. Ich denke dabei nicht nur an kriegerische Gefahren. Ich wünsche solche Gefahren zu jedem Zeitpunkt, in jeder Form, für alle Lebenskreise; sie müßten den Inhalt des Lebens


  1. [350] Memoiren von Réalier-Dumas. Corsica, das nicht halb so viel Bevölkerung (180000 Einwohner) hat, wie ein französisches Departement, hat in letzter Zeit Salicetti, Pozzo di Borgo, den General Sebastiani, Cervioni, Abbuttacci, Arena, Lucian und Napoleon Bonaparte hervorgebracht. Das kommt daher, weil jeder Corse, wenn er sein Haus verläßt, eine Pistole tragen darf und weil ein Corse, dem wahren Christentum zuwider, Selbstverteidigung und Rache ausübt.
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Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 141. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_141.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)