Seite:Ueber die Liebe 152.jpg

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man macht, wenn man vom Parkett aus mit dem Glase nach der Loge der Frau, die man begehrt, hinaufsieht, und ihr Gatte oder Liebhaber nähert sich gerade der Brüstung der Loge.

Die Hauptcharakterzüge dieses Volkes sind:

1. Die Aufmerksamkeit und Gewohnheit im Dienst ernster Leidenschaften macht schwerfällig; das ist der charakteristische Unterschied zwischen einem Franzosen und einem Italiener. Man muß einen Italiener beim Einsteigen in einen Postwagen, oder wenn er etwas bezahlt, beobachten, es ist keine „furia francese“. Deshalb erscheint der gewöhnlichste Franzose, wenn er nicht gerade ein beschränkter Kerl wie Demasure ist, einer Italienerin immer wie ein höheres Wesen.

2. Alle Welt unterhält Liebschaften, und nicht nur heimlich, wie in Frankreich. Der Gatte ist der beste Freund des Liebhabers.

3. Kein Mensch liest.

4. Es gibt keine Gesellschaft. Um sein Leben auszufüllen und Beschäftigung zu haben, verlangt man etwas mehr, als eine zweistündige Plauderei und Befriedigung seiner Eitelkeit in dem oder dem Salon. Das Wort „causerie“ läßt sich nicht ins Italienische übersetzen. Man redet, wenn man im Dienste einer Leidenschaft zu reden hat, aber selten spricht man, um gut und über alles mögliche zu plaudern.

5. Es gibt in Italien nichts Lächerliches.

In Frankreich suchen zwei Menschen immer das gleiche Vorbild nachzuahmen, und die Art und Weise, wie dies einem gelingt, unterliegt stets dem Urteil des andern. In Italien weiß ich nicht, ob ein eigentümliches Betragen dem, der es an den Tag legt,

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 152. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_152.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)