Seite:Ueber die Liebe 171.jpg

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Alle Aufmerksamkeit scheint auf die vernünftige Regelung des Lebens und auf die Beseitigung aller Störungen gerichtet zu sein. Ist man endlich soweit, die Frucht so vieler Sorgen und eines so lange bewährten Ordnungssinnes zu pflücken, dann reicht das Leben zum Genuß nicht mehr aus.

Man kann sagen, die Söhne Penns haben nie jenen Vers gelesen, der ihre Geschichte zu sein scheint:

Et propter vitam vivendi perdere causas.“

Die jungen Leute beiderlei Geschlechts unternehmen im Winter, der wie in Rußland die heitere Zeit des Landes ist, Tag und Nacht Schlittenfahrten miteinander und sind meilenweit unterwegs, lustig und ohne Beaufsichtigung. Aber niemals entsteht Schlimmes dabei.

Es gibt dort einen sozusagen physischen Frohsinn, der mit dem Feuer der Jugend, das heißt mit kaum fünfundzwanzig Jahren, dahin ist, aber keine genußbringenden Leidenschaften. Man ist in den Vereinigten Staaten so sehr an die Vernunft gewöhnt, daß eine Kristallbildung unmöglich ist.

Ich bewundere dieses Glück, aber ich fühle keinen Neid. Es ist wie das Glück einer fremdartigen, untergeordneten Art von Wesen. Von Florida und Mittelamerika vermute ich Besseres.

Meine Ansichten über Nordamerika werden bestärkt durch den völligen Mangel an Künstlern und Schriftstellern. Die Vereinigten Staaten haben uns noch keine Tragödie, kein Gemälde und keine Lebensbeschreibung Washingtons herübergeschickt.


Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 171. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_171.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)