Seite:Ueber die Liebe 173.jpg

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treten sie uns entgegen, diese himmlischen Geschöpfe, die ich hier nicht leibhaftig schildern kann.

Ich betrachte das spanische Volk als die lebendige Verkörperung des Mittelalters.

Es weiß nichts von einer Unzahl kleiner Wahrheiten, auf die seine Nachbarn kindisch eitel sind, aber es ist um so vertrauter mit den großen und hat genug Charakter und Geist, um ihnen bis in die entferntesten Winkel zu folgen. Der spanische Charakter bildet ein schönes Gegenstück zu dem französischen Geiste; hart, jäh, wenig elegant, voll wilden Stolzes, immer rücksichtslos gegen andere, verhält er sich genau wie das fünfzehnte zum achtzehnten Jahrhundert.

Spanien reizt mich zu einem Vergleiche; das einzige Land, das Napoleon zu widerstehen verstand, erscheint mir durchaus frei von falscher Ehre und von allem, was am Ehrgefühl töricht ist.


51. Über die Liebe in der Provence bis zur Eroberung von Toulouse durch die nordischen Barbaren im Jahre 1328

Die Liebe erfuhr in der Provence von 1100 bis 1328 eine sonderbare Entwickelung. Es gab anerkannte Gesetze für die Liebesbeziehungen zwischen beiden Geschlechtem, die gleich streng und genau befolgt wurden, wie vielleicht heute die Gesetze der Ehre. Die geheiligten Rechte der Ehe traten vor ihnen völlig in den Hintergrund, Heuchelei war etwas Unbekanntes, und da diese Gesetze die menschliche Natur nahmen, wie sie ist, mußten sie viel Glück hervorbringen.


Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 173. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_173.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)