Seite:Ueber die Liebe 179.jpg

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Wir sehen ein lebhaftes Bild von ähnlicher Wirkung aus gleicher Ursache in den Städten Italiens, deren Geschichte uns in deutlicherer Weise überliefert worden ist und die dabei noch das große Glück hatten, uns einen Dante, einen Petrarca und die Denkmäler ihrer Malerei zu hinterlassen.

Die Provençalen haben uns keine große Dichtung wie die „Göttliche Komödie“ vermacht, in der sich alle Eigentümlichkeiten der Sitten jener Zeit spiegeln. Vielleicht hatten sie weniger Leidenschaft, aber viel mehr heiteren Sinn, als die Italiener. Sie hatten von ihren Nachbarn, den Mauren in Spanien, die freudige Lebensanschauung. Die Liebe herrschte mit ihrer Fröhlichkeit, ihren Festen und ihrem Genuß in den Burgen der glücklichen Provence.

Wir hören im Opernhause das Finale einer schönen komischen Oper von Rossini. Alles auf der Bühne ist Heiterkeit, Schönheit, ideale Herrlichkeit. Wir sind den schlechten Seiten der menschlichen Natur weit entrückt. Die Oper ist zu Ende, der Vorhang fällt, die Zuschauer gehen, der Kronleuchter wird hochgezogen, die Lampen erlöschen. Schlechter Geruch erfüllt den Raum. Der Vorhang hebt sich wieder zur Hälfte, man sieht schmutzige, schlecht gekleidete Arbeiter auf der Bühne hin und her laufen. Sie machen sich in widerwärtiger Weise zu schaffen und stehen da, wo eben noch junge reizende Mädchen in ihrer Anmut waren …

Ähnlich war für das Königreich Provence die Wirkung der Eroberung von Toulouse durch das Heer der Kreuzfahrer. An Stelle der Liebe, der Anmut und Lebenslust traten nordische Barbarei und der heilige

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 179. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_179.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)