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Dominicus. Ich will diese Seiten nicht mit haarsträubenden Erzählungen von den Schrecknissen der Inquisition in ihrer ersten Blüte schänden. Diese Barbaren waren unsre Vorfahren; sie mordeten und plünderten alles; sie zertrümmerten aus Zerstörungslust, was sie nicht wegschleppen konnten; eine wilde Wut gegen alles, was eine Spur von Kultur verriet, beseelte sie, und ihre Raserei wurde besonders dadurch, daß sie kein Wort jener schönen Sprache des Südens verstanden, noch verdoppelt. Sehr abergläubisch und unter dem schrecklichen Einfluß des heiligen Dominicus, glaubten sie sich durch die Hinmordung von Provençalen den Himmel zu erwerben. Für diese war nun alles zu Ende; es gab keine Liebe, keine Fröhlichkeit, keine Poesie mehr; in kaum zwanzig Jahren nach der Eroberung waren sie ebenso barbarisch und roh, wie die Franzosen, unsere Väter.


52. In der Provence im zwölften Jahrhundert

Ich will eine kleine Geschichte aus den pronençalischen Handschriften[1] in der Übersetzung wiedergeben. Die Tatsachen darin ereigneten sich gegen das Jahr 1180, die Niederschrift fand um 1250 statt. Die Anekdote ist jedenfalls sehr bekannt. Die Färbung der Sitten spiegelt sich im Stil und ich bitte mir deshalb zu gestatten, Wort für Wort ohne die geringste Rücksicht auf die Eleganz der heutigen Sprache zu übersetzen.

„Herr Raimund von Roussillon war ein tapferer Baron, wie ihr wißt, und hatte zur Frau Madonna


  1. [353] Das Manuskript befindet sich in der Laurentiana zu Florenz.
Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 180. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_180.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)