Seite:Ueber die Liebe 217.jpg

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einräumen, aber sie wiederholt zwanzig Jahre lang die gleichen Dinge, und welcher Mensch hat die Standhaftigkeit eines Römers, einem immer wiederkehrenden geistigen Einfluß sein Leben lang zu widerstehen? Die Welt wimmelt von Ehemännern, die sich leiten lassen, aber aus Charakterschwäche, nicht aus Gefühl für Gerechtigkeit und Gleichheit. Da sie sich unfreiwillig fügen, liegt der Versuch des Mißbrauchs immer nahe, und ein solcher ist zuweilen sogar zur Selbsterhaltung nötig.

Viertens: Schließlich liegt unser Glück in den Jahren der Liebe, unsrer schönsten Lebenszeit, die im Süden oft zehn bis zwölf Jahre währt, ganz und gar in den Händen der Frau, die wir lieben. Warum sollte ein auf den Thron erhobener Sklave nicht versuchen, seine Gewalt zu mißbrauchen? Hier finden wir den Grund des falschen Zartgefühls und des weiblichen Stolzes. Dergleichen Darlegungen sind gänzlich nutzlos; die Männer sind Tyrannen und man weiß, was bei einem Despoten selbst die vernünftigsten Ratschläge ausrichten: der allmächtige Mann liebt nur eine einzige Art von Ratschlägen, nämlich solche, die ihn seine Macht noch vergrößern lehren. Wo werden die armen jungen Mädchen einen Quiroga oder einen Riego finden, der ihren Unterdrückern und Erniedrigern solche heilsame Ratschläge erteilen könnte, die man mit Gunst und Orden belohnt, statt mit dem Galgen von Porlier?

Wenn ein Umschwung auf diesem Gebiete mehrere Jahrhunderte erfordert, so liegt der Grund darin, daß durch einen verhängnisvollen Zufall alle ersten Erfahrungen unbedingt immer mit der Wahrheit in

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 217. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_217.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)