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Mädchen zu sagen: „Du mußt dem Gatten deiner Wahl treu sein,“ es dann aber mit einem langweiligen alten Manne zu verheiraten.[1]

„Aber die jungen Mädchen heiraten doch gern.“

Das kommt davon, weil die jetzige engherzige Erziehungsweise ihnen im elterlichen Hause eine Sklaverei von unerträglicher Langeweile aufbürdet. Auch fehlt ihnen der klare Blick und schließlich verlangt es die Natur. Nur ein Mittel gibt es, um von den Frauen mehr eheliche Treue zu erlangen, das ist, wenn man den jungen Mädchen Freiheit gewährt und den verheirateten Leuten die Ehescheidung ermöglicht.

Eine Frau verliert in der Ehe meist die schönsten Tage ihrer Jugend und fürchtet, durch eine Scheidung Dummköpfen Anlaß zu schlechten Redereien zu geben.

Junge Frauen, die viele Anbeter haben, bedürfen der Ehescheidung nicht. In einem gewissen Alter glauben die Frauen, die viele Liebhaber gehabt haben, ihren Ruf wieder herstellen zu müssen, und in Frankreich gelingt es ihnen immer, wenn sie sich gegen Fehltritte, die sie selbst hinter sich haben, nun recht streng gebärden.

Gerade tugendsame, unglückliche und wahrhaft liebende junge Frauen verlangen nach der Ehescheidung, und doch müssen sie sich von Frauen, die fünfzig Männer gehabt haben, in Acht und Bann tun lassen.


61. Von der sogenannten Tugend

Ich für meine Person beehre mit dem Namen „Tugend“ die gewohnheitsmäßige Ausübung von beschwerlichen, anderen nützlichen Handlungen.


  1. [356] Selbst unbedeutende Dinge haben lächerlicherweise genau wie auf uns Männer Einfluß auf die Erziehung der Frauen. So überwies zum Beispiel das Ministerium derselben edlen Regierung, die gegen die Ehescheidung ist, der Stadt Laon ein Standbild der Gabrielle d’Estrées. Es wird auf einem öffentlichen Platze aufgestellt, augenscheinlich um die jungen Mädchen an die Liebschaften der Bourbonen zu erinnern und sie anzuhalten, gelegentlich gegen liebenswürdige Könige nicht grausam zu sein und diesem erlauchten Hause Nachkommen zu gewähren. Dafür verweigerte das nämliche Ministerium der Stadt Laon die Genehmigung zu einem Denkmal des Marschalls Serrurier, eines braven Mannes, der kein galanter Herr war, aber seine Laufbahn als gemeiner Soldat begonnen hatte. (Rede des Generals Foy, „Courrier“ vom 17. Juni 1820; Dulaure „Histoire de Paris“ unter „Amours de Henri IV“.)
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Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 235. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_235.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)