Seite:Ueber die Liebe 237.jpg

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Ich verstehe nicht, warum der Gedanke, mit einem Kessel siedenden Öls zu wetteifern, Valmont nicht veranlaßt hat, sich verachtungsvoll von ihr abzuwenden. Viel rührender erscheint mir Rousseaus Julie, die nur an ihr Versprechen und an das Glück Wolmars denkt.

Eine der lächerlichsten Verkehrtheiten auf Erden ist die, daß die Menschen das, was ihnen zu wissen not täte, schon zu wissen meinen. Man höre sie über Politik, diese schwierigste aller Wissenschaften, man höre sie über Ehe und Sittlichkeit sprechen.


62. Die Ehe in Europa

Bis hierher haben wir die Ehefrage nur theoretisch beleuchtet, wenden wir uns nun zu den Tatsachen.

Welches Land der Erde hat die glücklichsten Ehen? Unbestreitbar das protestantische Deutschland.

Es ist wahr, die Männer werden dort nicht betrogen. Aber, großer Gott, was gibt es dort für Frauen! Bildsäulen, keine lebendigen Wesen. Vor der Ehe sind sie angenehm, leicht wie Gazellen, mit lebhaften und zärtlichen Augen, die jede Andeutung von Liebe verstehen. Sie sind eben auf der Jagd nach einem Gatten. Kaum ist er gefunden, so sind sie nichts anderes mehr, als Gebärmaschinen. In einer Familie von vier bis fünf Kindern muß eins immer krank sein, da die Hälfte der Kinder vor dem siebenten Jahre stirbt, und sobald ein Kind krank ist, geht hier zu Lande die Mutter nicht mehr aus. Ich habe beobachtet, daß sie eine unbeschreibliche Freude an den Liebkosungen ihrer Kinder finden. Nach und nach hören sie gänzlich auf

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 237. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_237.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)