Seite:Ueber die Liebe 266.jpg

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nur einundzwanzig Jahre regiert und Ludwig der Fünfzehnte neunundfünfzig Jahre? Warum entspricht die Lebensdauer eines jeden Menschen nicht genau dem Maße seiner Tugend? Solche und andere „niederträchtige“ Fragen aufzustellen, hat keinen Wert; sie würden höchstens etwas Wert haben, wenn man sie nicht nur mit Spott und Heuchelei beantwortete, wie die englischen Philosophen.


26.

Die moderne Frauenerziehung, dieses wunderliche Gemisch von frommen Formeln und leichtsinnigen Liedern („Di piacer mi balza il cor“ in der „Gazza ladra“), geht geradezu darauf aus, jegliches Glück zu untergraben. Sie erzeugt die höchste Unvernunft. Frau von R***, die sich so vor dem Tode fürchtete, ist gestorben, weil es ihr Vergnügen bereitete, ihre Medizin zum Fenster hinauszuschütten. Derartige bedauernswerte Frauen verwechseln Lustigkeit mit Unvernunft, weil jene oft unüberlegt erscheint. Genau so ist der Deutsche, der, um lebhaft zu erscheinen, zum Fenster hinunterspringt.


27.

Öffentliche Meinung im Jahre 1822. Ein Mann von dreißig Jahren verführt ein fünfzehnjähriges Mädchen. Das Mädchen ist entehrt.


28.

Einer meiner bedeutendsten Zeitgenossen, ein Mann, der in der Kirche und im Staate eine große Rolle spielt, erzählte uns heute (Januar 1822) bei Frau von M*** von den großen Gefahren, die er in der Schreckenszeit durchgemacht hatte.


Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 266. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_266.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)