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67.

Das Ave-Maria (die Dämmerzeit) ist in Italien die Stunde der Zärtlichkeit, der seelischen Freuden und der Melancholie. Die Empfindung wird durch den Klang der schönen Glocken gehoben.

Genußreiche Stunden, in denen die Sinne in Erinnerungen schwelgen …


68.

Träumereien auf den Borromëischen Inseln. „Wenn eine wahre Leidenschaft auf Hindernisse stößt, so bringt sie aller Wahrscheinlichkeit nach mehr Unglück, als Glück hervor. Wenn diese Behauptung für eine feinsinnige Seele nicht unbedingt zutrifft, so ist sie doch für die Mehrzahl der Männer vollkommen richtig, insbesondere für kalte Philosophen, die im Gebiete der Leidenschaften nur von Neugierde und Eigennutz leben.“

Diese Worte richtete ich gestern Abend an Comtesse Fulvia, als wir zusammen auf der östlichen Terrasse der Isola Bella in der Nähe der großen Pinie hin und her gingen. Sie antwortete mir:

„Das Unglück übt auf das menschliche Leben einen viel stärkeren Einfluß aus, als die Freude.“

„Alles, was darauf Anspruch erhebt,“ – meinte ich, – „uns Genuß zu gewähren, muß in erster Linie stark wirken. Da das Leben selbst nur aus Empfindungen besteht, könnte man vielleicht sagen, daß der allgemeine Drang aller Lebewesen nach Anlässen sucht, um in möglichst starken Empfindungen zu leben. Die Nordländer sind wenig lebhaft; das sieht man schon aus ihren langsamen Bewegungen. Das dolce far niente der Italiener hingegen beruht in der Freude

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 284. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_284.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)