Seite:Ueber die Liebe 285.jpg

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am Genusse seelischer Regungen, während man sich gemächlich auf einen Divan hinstreckt. Ein solcher Genuß ist unmöglich, wenn man den ganzen Tag über zu Pferde oder im Wagen sitzt, wie der Engländer oder der Russe. Auf einem Divan würden diese Menschen vor Langeweile sterben. Es gibt in ihrer Seele nichts zu beobachten.

„Die Liebe gewährt die denkbar stärksten Emfindungen; ein Beweis dafür ist es, daß – physiologisch ausgedrückt – im Augenblicke der Entflammung das Herz jene Gefühlsmischung zustande bringt, die Philosophen wie Helvetius, Buffon und anderen so töricht erscheinen. Luizina ist, wie Sie wissen, neulich in den See gestürzt, als sie mit ihren Blicken ein Lorbeerblatt verfolgte, das von irgend einem Baume der Isola Madre ins Wasser gefallen war. Die Ärmste hat mir gestanden, daß einmal einer ihrer Verehrer im Gespräche mit ihr die Blätter eines Lorbeerzweiges abgerissen und mit den Worten in den See geworfen hat: ‚Ihre Grausamkeiten und die Verleumdungen Ihrer Freundin hindern mich, mein Leben auszunutzen und Ruhm zu erlangen.‘

„Eine Seele, die durch große Leidenschaft, durch Ehrgeiz, Spiel, Liebe, Eifersucht oder Krieg Augenblicke der Herzensangst und des heftigsten Unglücks erfahren hat, verachtet in bizarrer Unverständlichkeit das Glück eines friedlichen und wunschlosen Lebens. Ein schönes Schloß in malerischer Gegend, großes Vermögen, eine gute Frau, drei hübsche Kinder, eine Menge liebenswerter Freunde: das alles ist nur eine kleine Lese dessen, was unser Wirt, General C***, besitzt, und doch wissen Sie, daß er uns erzählt hat,

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 285. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_285.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)