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er sei nahe daran gewesen, nach Neapel zu gehen und den Oberbefehl über eine Guerillabande zu übernehmen. Eine für die Leidenschaften geschaffene Seele fühlt, daß ein solches glückliches Leben langweilig ist und vielleicht nur gewöhnliche Gedanken wachruft. ‚Ich möchte,‘ sagte damals der General, ‚daß ich nie das Fieber der großen Leidenschaften kennen gelernt hätte; ich möchte mich gern mit dem scheinbaren Glücke begnügen, über das man mir täglich so törichte Komplimente macht, auf die ich zum Überdruß auch noch liebenswürdig antworten muß.‘ Ich als Philosoph füge hinzu: Wollen Sie einen tausendsten Beweis, daß wir nicht von einem guten Wesen erschaffen worden sind, so ist es der, daß die Freude kaum halb so viel Eindruck auf unser Ich macht, als das Leid.[1]

Die Komtesse unterbrach mich: „Es gibt wenige seelische Leiden im Leben, die uns nicht durch die verursachte Erregung wertvoll würden. Wenn ein Körnchen Edelmut in der Seele vorhanden ist, so verhundertfacht sich der Genuß daran. Jener 1815 zum Tode verurteilte und durch Zufall gerettete Herr von Lavalette muß sich, wenn er damals mutig in den Tod gegangen ist, zehnmal im Monat jenen Augenblick vergegenwärtigen. Ein Feigling, der gleichfalls durch Zufall gerettet wird, kann sich im besten Falle nur deshalb mit Genuß an jenen Augenblick erinnern, weil er gerettet wurde, aber nicht wegen des Schatzes an Edelmut, den er dabei in sich entdeckte und der ihn für immer von jeder Furcht befreit.“

Ich: „Die Liebe, selbst die unglückliche, verleiht einer edlen Seele, der Einbildung für Wahrheit gilt, den Schatz eines derartigen Genusses. Erhabene Phantasien


  1. [358] Vgl. die Analyse des asketischen Prinzips in den „Traités de législation civile et pénale“, von Bentham, I. Bd., Paris 1802 (3 Bde.).
Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 286. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_286.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)