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Protokoll, das an Ort und Stelle aufgenommen wurde, ist die Abschrift des folgenden Billets erhalten, das er kurz vorher geschrieben hat und das wegen seiner Merkwürdigkeit aufbewahrt zu werden verdient:

„Der unbegreifliche Gegensatz zwischen dem Adel meiner Empfindungen und der Niedrigkeit meiner Geburt, eine ebenso heftige wie aussichtslose Liebe zu einem anbetungswürdigen Mädchen, die Furcht, ihr Unehre zu bereiten, die notwendige Wahl zwischen Verbrechen und Tod, – alles das hat mich bestimmt, das Leben zu verlassen. Für die Tugend geboren und nahe daran, ein Verbrecher zu werden, ziehe ich den Tod vor.“ (Grimm III, 2, 495.)

Ein bewundernswürdiger Selbstmord, und doch wird er den Sitten von 1880 abgeschmackt erscheinen.


73.

Ein Mann, der Gift genommen hat, ist moralisch tot. Das Erstaunen über seine Tat und ihre Folgen nimmt ihm den Sinn für alles andere – mit wenigen Ausnahmen.


74.

Die armen Trappisten sind Unglückliche, die nicht den Mut zum Selbstmord haben. Ausgenommen die Oberen, die den Genuß ihrer Macht haben.


75.

Wenn eine Frau über den Tod ihres im Kriege gefallenen Geliebten verzweifelt ist und augenscheinlich die Absicht hegt, ihm nachzufolgen, so muß man zunächst prüfen, ob dieser Entschluß nicht der richtigste ist; andernfalls muß man die älteste menschliche Gewohnheit, den Selbsterhaltungstrieb, dagegen zur Geltung bringen.



Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 290. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_290.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)