Seite:Ueber die Liebe 300.jpg

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immer angenehm. Einer meiner Kameraden wurde in der Schlacht bei Borodino durch einen Granatsplitter in der Hüfte verwundet. Nach einigen Tagen drohte das Wundfieber. Schnell wurden Béclar, Larrey und ein paar berühmte Chirurgen zusammenberufen. Eine Beratung fand statt, deren Ergebnis meinem Freunde kund tat, es sei kein Wundfieber. In jenem Augenblicke beobachtete ich, daß er glücklich war. Sein Glück war groß, aber nicht ungetrübt. Im geheimen nagte an seiner Seele der Argwohn, daß er doch noch nicht über alle Gefahr hinaus sei. Er wollte den Ärzten nicht recht trauen und machte sich über ihre Glaubwürdigkeit Gedanken. Immer wieder dachte er an die Möglichkeit des Wundfiebers. Wenn man ihm heute nach zehn Jahren jene ärztliche Beratung erwähnt, hat er eine schmerzliche Empfindung. Sofort übermannt ihn die Erinnerung an das erlebte Unglück.

Die Freude über das Aufhören eines Schmerzes besteht darin:

erstens, über alle Einwände unseres Inneren obzusiegen,

zweitens, alle verlorenen Vorteile wieder zu haben.

Die Freude über einen Gewinn von fünfhunderttausend Franken besteht darin, sich alle die neuen und außergewöhnlichen Genüsse in der Phantasie vorzustellen, die man sich nun verschaffen wird.

Eine seltsame Ausnahme gibt es. Man muß in Betracht ziehen, ob der Gewinner sich vordem in zu hohem oder in zu geringem Maße ein großes Vermögen erträumt hat. Hat er keine großen Wünsche gehabt, und ist er ein beschränkter Kopf, so wird er zwei bis drei Tage überhaupt gar nicht wissen, was

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 300. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_300.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)