Seite:Ueber die Liebe 308.jpg

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122.

Die achtbarste Quelle des weiblichen Stolzes ist die Furcht, in den Augen des Geliebten durch irgend einen voreiligen Schritt oder durch eine Handlung, die ihm unweiblich erscheinen könnte, zu verlieren.


123.

Wenn man vor den Augen des Zuschauers das Gefühl der Tugend im Gegensatz zu dem der Liebe darstellt, so findet man, daß man ein Herz, in zwei Empfindungen zerlegt, geschildert hat. In Romanen ist die Tugend nur dazu gut, um geopfert zu werden (Rousseaus Julie von Etanges).


124.

Woher rührt die Unduldsamkeit der Stoiker? Aus derselben Quelle, wie die der strengsten Frömmler. Sie sind mißmutig, weil sie gegen die Natur kämpfen, sich Entbehrungen aufbürden und weil sie leiden. Wenn sie sich ernstlich über den Haß Rechenschaft ablegen wollten, den sie gegen die Anhänger einer weniger strengen Moral hegen, so müßten sie sich eingestehen, daß er einer geheimen Eifersucht auf das Glück entspringt, um das sie die anderen beneiden und dem sie entsagt haben, ohne an die Belohnungen zu glauben, die sie für ihr Opfer entschädigen sollen. (Diderot.)


125.

Frauen, die oft schlechter Laune sind, sollten sich fragen, ob sie mit ihrem Benehmen wirklich den Weg eingeschlagen haben, den sie aufrichtig für den Weg zum Glück halten. Liegt im Herzensgrunde einer Prüden nicht ein wenig Mangel an Mut, vermischt mit etwas niedriger Rachsucht?



Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 308. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_308.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)