Seite:Ueber die Liebe 309.jpg

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126.

Die öffentliche Meinung hat von Dingen des Gefühls nur niedrige Anschauungen und doch machen Frauen das Urteil der großen Menge zum höchsten Richter ihres Lebens. Selbst die hervorragendsten tun es, oft ohne es zu merken und trotzdem sie selbst anders denken. Es ist das ein großer Fehler, der jeden rechten Mann tief verletzen muß.


127.

Die Frauen glauben im ersten besten Trottel oder in der ersten besten falschen Freundin, die sich vor ihnen als treue Dolmetscher der öffentlichen Meinung aufspielen, die Stimme der letzteren zu vernehmen.


128.

Eine ehrbare Frau hält sich auf ihrem Landgute eine Stunde lang im Treibhause mit ihrem Gärtner auf. Leute, mit denen sie sich nicht gut steht, beschuldigen sie einer Liebschaft mit dem Gärtner.

Was soll sie dagegen sagen? Die Sache ist ja möglich. Sie könnte entgegnen: „Mein Charakter spricht für mich, meine ganze Lebensführung.“ Aber auch das ist ganz unsichtbar für boshafte Menschen, die nichts sehen wollen, und für Dumme, die nichts sehen können.


129.

Am meisten nachsichtig, weil am glücklichsten, ist die unbefangene Tugend.

Unmittelbar nach diesem Glücke kommt das einer jungen, hübschen und leichtlebigen Frau, die sich keine Vorwürfe macht.

In Messina sagte man der Gräfin Vicenzella Schlechtes nach. „Was wollen die Leute,“ sagte sie, „ich bin jung,

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 309. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_309.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)