Seite:Ueber die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden.pdf/3

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in Königsberg schrieb: in der Zeit (1805—6), wo er, durch jenen Sturz willenlos geworden und sich den Wünschen seiner Schwester Ulrike unterordnend, in den verlassenen Staatsdienst zurückgekehrt, als Diätar bei der Domainenkammer in Königsberg arbeitete; wie Apollo im Tagelohn, und sich selbst entfremdet: denn er hatte, wie es scheint, Ulriken sogar gelobt, auf seinen mörderischen Dichterberuf zu verzichten. Ulrike besuchte ihn in Königsberg; wann, kann ich nicht sagen. Erst als sie ihn verlassen hatte — so scheint es — kehrte er, anfangs in tiefer Heimlichkeit, zu seiner Kunst zurück. Nicht mehr himmelstürmend, wie damals: nach Stil- und Denk-Uebungen, wie dieser Aufsatz hier, warf er sich auf die Novelle, fuhr als Uebersetzer und Vearbeiter (Molières Amphitryon) fort, griff dann sein in Bern concipirtes Lustspiel vom zerbrochenen Krug wieder auf, — um endlich am Schluß der Königsberger Zeit sich wieder am großen Stil, an der Tragödie seiner eigenen Seele — ich meine die „Penthesilea“ — zu versuchen.

An Rühle von Lilienstern (R. v. L.) ist dieser Aufsatz gerichtet, wie Du schon selber bemerkt hast. Rühle von Lilienstern war in jener Zeit sein Vertrautester; an ihn schrieb Kleist die wunderbaren Briefe aus Königsberg, über den politischen Weltlauf, über Diesseits und Jenseits, ihm schickte er seine neu entstehenden Arbeiten zu, und Rühle übernahm es, sie zu verwerthen. Damals entwickelte sich, in Briefen und Dichtungen, jenes Besonderste, Eigenste der Kleistischen Prosa, das so befremdend bezaubert; jene räthselhafte Harmonie von Härte und Wohlgefühl, von Kunst und Natur, von Willkür und Nothwendigkeit, die vielleicht zuerst in diesem Aufsatz ihren Triumph verkündet.

Ich gönne Dir die Freude, ihn an’s Licht zu bringen … Daß ich nur noch sage (doch vermuthlich wußtest Du es früher, als ich): die „Donnerkeil“-Rede Mirabeaus, die Kleist so originell vor uns entstehen läßt, hat Mirabeau nicht in dieser Form gesprochen: eine zufällige Verhandlung in der französischen Deputirtenkammer, am 10. März 1833, hat darüber ausgeklärt. Danach hätte Mirabeau dem Herrn von Dreux-Brézé, dem Ceremonienmeister des Königs, nur diese Worte zugerufen: „Wir sind durch den Willen der Nation versammelt, wir werden nur der Gewalt weichen!“ — Da keiner der damals noch lebenden Zeugen dieser Berichtigung widersprochen hat, darf sie wol für authentisch gelten; — und so hätte denn Kleist dieses Beispiel für seinen Satz von der „allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden“ nicht ganz glücklich gewählt … Was thut’s! Er hat doch Recht. Es gibt keinen wahreren Satz. Und Keiner wird ihn genialer, treffender, wahrhafter entwickeln.

Leb wohl! — —

Dein
Adolf Wilbrandt.