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Liebesklagen.




1. Der Student.


Als ich einst bei Salamanka
Früh in einem Garten saß
Und bei’m Schlag der Nachtigallen
Emsig im Homerus las:

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Wie in glänzenden Gewanden

Helena zur Zinne trat
Und so herrlich sich erzeigte
Dem trojanischen Senat,

Daß vernehmlich Der und Jener

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Brummt’ in seinen grauen Bart:

„Solch ein Weib ward nie gesehen
Traun, sie ist von Götterart!“

Als ich so mich ganz vertiefet,
Wußt’ ich nicht, wie mir geschah:

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In die Blätter fuhr ein Wehen,

Daß ich staunend um mich sah.

Auf benachbartem Balkone,
Welch ein Wunder schaut’ ich da!
Dort in glänzenden Gewanden

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Stand ein Weib wie Helena,


Und ein Graubart ihr zur Seite,
Der so seltsam freundlich that,
Daß ich schwören mocht’, er wäre
Von der Troer hohem Rath.

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Doch ich selbst ward ein Achäer,

Der ich nun seit jenem Tag
Vor dem festen Gartenhause,
Einer neuen Troja, lag.

Empfohlene Zitierweise:
Ludwig Uhland: Gedichte von Ludwig Uhland (1815). J. G. Cotta, Stuttgart und Tübingen 1815, Seite 252. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:UhlandGedichte1815_0252.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)