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Walther Kabel: Unfehlbar (Das Buch für Alle, Illustrierte Familienzeitung, Heft 27)

Inzwischen war auch Orville hinter seinem Freunde sichtbar geworden, und beide riefen jetzt, vorläufig noch völlig ahnungslos, freudig überrascht:

„Wirklich, unsere Brieftauben sind da?“

„Ja, Ihre Brieftauben,“ antwortete der Fremde jetzt mit offensichtlichem Hohn in der Stimme. „Ihre Brieftauben sind da, aber ohne die erhofften Banknoten, meine Herren.“

Würde der Blitz vor den am Fenster stehenden Hochstaplern in die Erde gefahren sein, sie hätten kaum entsetztere Gesichter machen können als in diesem Augenblick, wo sie ihren raffinierten Plan aufgedeckt sahen.

Aber sie sollten nicht dazu kommen, diese wenig erfreulichen Gedanken weiter auszuspinnen, denn während Viktor Desartelle das Verbrecherpaar ans Fenster gelockt hatte, waren die Kriminalbeamten durch die Hintertür geräuschlos eingedrungen und nahmen jetzt die völlig überraschten „Künstler“, die keinerlei Widerstand zu leisten wagten, fest.

Ruhig ließen sich Moulin und Orville die Handschellen anlegen, wobei der erstere nur zu seinem Verbündeten mit blutiger Ironie bemerkte: „Ich fürchte, mein Junge, dein unfehlbarer Trick wird uns teuer zu stehen kommen. Jedenfalls wirst du vorläufig keine Gelegenheit haben, deiner Geflügelliebhaberei weiter zu frönen, und mein Gemälde dürfte wohl kaum zur nächsten Ausstellung fertig werden.“

***

Eine Viertelstunde später fuhr der geschlossene Wagen vor, in dem die Verhafteten nach Paris geschafft werden sollten. Desartelle ließ es sich nicht nehmen, die Herren „Künstler“ zu begleiten. Er wollte auf der Polizeipräfektur den Triumph auskosten, diese beiden gefährlichen Galgenvögel unschädlich gemacht zu haben.

Unterwegs wandte sich Moulin, der im Gegensatz zu seinem völlig niedergebrochenen Genossen dieses ungeahnte Pech mit voller Gleichgültigkeit ertrug, mit der höflichen Bitte an den jungen Advokaten, ihm doch zu erklären, auf welche Weise man ihnen eigentlich auf die Spur gekommen sei.

Desartelle hatte keinen Grund, die Antwort hierauf zu verweigern. „Wir, die Kriminalbeamten und ich,“ erklärte er sehr höflich, hatten für heute bei Morgengrauen auf offenem Felde westlich von St. Cloud ein Zusammentreffen verabredet. Drei von den Beamten waren dazu auf Fahrrädern erschienen. Sobald es völlig Tag geworden war, ließen wir von Ihren Brieftauben, die in einem Korbe mitgenommen und durch Bleistücke an der vollen Entfaltung ihrer Fluggeschwindigkeit gehindert worden waren, zunächst zur Probe nur zwei aufsteigen. Schwerfällig erhoben sie sich in die Lüfte, kreisten in mäßiger Höhe erst einigemal um unsere Köpfe und schlugen dann langsam eine direkt südliche Richtung ein, gefolgt von den Radfahrern, die hierbei die zahlreichen, das Gelände durchschneidenden Wege und Fußpfade benutzten. Aber die sonst so schnellen Tauben kamen, ganz wie ich gerechnet hatte, infolge der Belastung durch die Bleistücke nicht weit. Bereits nach kaum zwei Kilometer ließen sie sich auf dem Dache einer im Parke von St. Cloud stehenden Villa völlig erschöpft nieder, so daß es auch uns Fußgängern möglich war, nachzukommen. Nach einer Weile jagten wir dann die Vögel wieder auf, die jetzt noch niedriger und noch langsamer, aber in derselben Richtung dahinstrichen. Dergestalt überzeugten wir uns, daß der Ort, wo die Tauben beheimatet waren, fraglos irgendwo im Süden von St. Cloud zu suchen sei. Um nun das Verfahren abzukürzen – inzwischen hatten die Tauben abermals auf einem Hause Station gemacht – ließ ich zu ihrer Beobachtung einen der Radfahrer zurück und fuhr mit den anderen Beamten und den noch nicht verwendeten acht übrigen Tauben zu Wagen nach Chaville, das bekanntlich vier Kilometer südlich von St. Cloud an der Straße nach Versailles liegt. Hier in der Nähe von Chaville wiederholten wir auf übersichtlichem Gelände unser Experiment mit einer weiteren Taube. Auch diese flog nach Süden zu davon, woraus hervorging, daß wir über den von uns gesuchten Ort noch nicht hinausgekommen waren. Da ich mit meinem Material sparsam umgehen mußte – ich konnte ja nicht wissen, wie oft wir noch Tauben auffliegen lassen mußten, um durch sie zu ihrem Schlage geleitet zu werden – scheuchten wir die in Chaville freigegebene Taube so lange auf, bis es uns gelang, sie auf dem Hofe einer Farm wieder einzufangen. Dann brachten uns die Wagen auf meine Anordnung hin bis Jouy, das wieder vier Kilometer südlich von Chaville liegt. Abermals sollte uns hier eine weitere Taube die fernere Richtung für unsere Verfolgung anzeigen. Sie flatterte hoch, kreiste einigemal in der Luft, um sich zu orientieren, zog dann jedoch nicht wieder nach Süden, sondern vielmehr nach Nordost davon, für uns ein Beweis, daß ihr heimatlicher Schlag sich zwischen Joup und Chaville befinden mußte. Nachdem wir dann noch in Zwischenräumen von je ein Kilometer drei weitere Tauben, und zwar die letzte in Vélizy selbst, hatten aufsteigen lassen, führte uns diese zu dem von Ihnen und Ihrem Genossen gemieteten Haus, wo sie sofort in dem offenen Flugloch unter dem Dache verschwand.“

„Das haben Sie außerordentlich fein angestellt, mein Herr,“ sagte Moulin anerkennend. „Alle Hochachtung vor Ihrem Scharfsinn!“ Und zu dem in seiner Wagenecke hockenden Jacques Orville gewandt, fügte er hinzu: „Weißt du noch, mein Junge, wie ich dich damals auf der Bank im Luxemburggarten warnte? Nun sind wir wirklich über die schwache Stelle in deinem unfehlbaren Trick ins Zuchthaus gestolpert!“

Viktor Desartelle wurde durch den in ganz Frankreich großes Aufsehen erregenden Fall als tüchtiger Advokat überall bekannt und kam außerdem noch zu seinem reizenden Frauchen.

Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Unfehlbar (Das Buch für Alle, Illustrierte Familienzeitung, Heft 27). Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 1911, Seite 604. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Unfehlbar.pdf/4&oldid=- (Version vom 1.8.2018)