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Marthe und ihre Uhr

Während ich die Realschule zu *** besuchte, wohnte ich in einem kleinen Bürgerhause der Stadt, worin aber von Vater, Mutter und vielen Geschwistern nur eine alternde unverheirathete Tochter zurückgeblieben war. Die Eltern und zwei Brüder waren gestorben, die Schwestern, bis auf die Jüngste, welche einen Arzt am selbigen Orte geheirathet hatte, ihren Männern in entfernte Gegenden gefolgt. So blieb denn Marthe allein in ihrem elterlichen Hause, worin sie sich durch das Vermiethen des früheren Familienzimmers und mit Hülfe einer kleinen Rente spärlich durch’s Leben brachte. Doch kümmerte es sie wenig, wenn sie nur Sonntags ihren Mittagstisch decken konnte; denn ihre Ansprüche an das äußere Leben waren fast keine; eine glückliche Folge der strengen und sparsamen Erziehung, welche der Vater, sowohl aus Grundsatz als auch in Rücksicht seiner beschränkten bürgerlichen Verhältnisse, allen seinen Kindern gegeben hatte. Wenn Marthe’n in ihrer Jugend nur die gewöhnliche Schulbildung zu Theil geworden war, so hatte das Nachdenken ihrer späteren einsamen Stunden, vereinigt mit einem behenden Verstande und dem sittlichen Ernst ihres Characters, sie doch zu der Zeit, in welcher ich sie kennen lernte, auf eine für Frauen, namentlich des Bürgerstandes, ungewöhnlich hohe Bildungsstufe gehoben. Freilich sprach sie nicht immer grammatisch richtig, obgleich sie viel und mit Aufmerksamkeit las, am liebsten geschichtlichen oder poetischen Inhalts; aber sie wußte sich dafür meistens über das Gelesene ein richtiges Urtheil zu bilden, und, was so Wenigen gelingt, selbständig das Gute vom Schlechten zu unterscheiden. Unter den Werken der neueren Dichter war Mörike’s Maler Nolten ihr Lieblingsbuch; an Immermann’s Münchhausen hatte sie eine innige Freude, und manche Stunde hat sie sich mit mir über seinen humoristischen Kampf gegen die sociale Lüge unterhalten. Dadurch unterschied sie sich von den gebildeten Damen der höheren Stände, welche gemeiniglich nur von Frau von Paalzow’s van der Nees oder dem französischen Grafen von Monte Christo entzückt zu seyn pflegen. – Die Langeweile drückte Marthe’n in ihrer Einsamkeit nicht, wohl aber

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Theodor Storm: Marthe und ihre Uhr. Altona: Verlag der Expedition des Altonaer Mercur's, 1848, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Volksbuch_f%C3%BCr_Schleswig_Holstein_und_Lauenburg_1848_054.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)