Seite:Volksbuch für Schleswig Holstein und Lauenburg 1848 056.jpg

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sie aufsehn; – da schien die Sonne so warm in die Fensterscheiben, die Nelken auf dem Fensterbrett dufteten so süß; draußen schossen die Schwalben singend durch den Himmel. Sie mußte wieder fröhlich seyn, die Welt um sie her war gar zu freundlich.

Die Uhr hatte aber auch wirklich ihren eignen Kopf; sie war alt geworden und kehrte sich nicht mehr so gar viel mehr an die neue Zeit; daher schlug sie oft sechs, wenn sie zwölf schlagen sollte, und ein ander Mal, um es wieder gut zu machen, wollte sie nicht aufhören zu schlagen, bis Marthe das Schlagloth von der Kette nahm. Das wunderlichste war, daß sie zuweilen gar nicht dazu kommen konnte; dann schnurrte und schnurrte es zwischen den Rädern, aber der Hammer wollte nicht ausholen; und das geschah meistens mitten in der Nacht. Marthe wurde jedesmal wach; und mochte es im klingendsten Winter und in der dunkelsten Nacht seyn, sie stand auf und ruhte nicht, bis sie die alte Uhr aus ihren Nöthen erlöst hatte. Dann ging sie wieder zu Bette und dachte sich allerlei, warum die Uhr sie wohl geweckt habe, und fragte sich, ob sie in ihrem Tagewerk auch etwas vergessen, ob sie es auch mit guten Gedanken beschlossen habe.

Den Weihnachtabend hatte ich im Kreise einer befreundeten Familie verlebt; der Tannenbaum hatte gebrannt, die Kinder waren jubelnd in die langverschlossene Weihnachtsstube gestürzt; nachher hatten wir die unerläßlichen Karpfen gegessen und Bischof dazu getrunken; nichts von der herkömmlichen Feierlichkeit war versäumt worden. – Am andern Morgen trat ich zu Marthe in die Kammer, um ihr den gebräuchlichen Glückwunsch zum Feste abzustatten. Sie saß mit untergestütztem Arm am Tische; ihre Arbeit schien längst geruht zu haben.

„Und wie haben Sie denn gestern Ihren Weihnachtabend zugebracht?“ fragte ich.

Sie sah zu Boden und antwortete schwer: „Zu Hause.“

„Zu Hause? Und nicht bei Ihren Schwesterkindern, wo man doch auch gewiß den Weihnachtsbaum angezündet hat?“

„Ach,“ sagte sie, „seit meine Mutter gestern vor zehn Jahren hier in diesem Bette starb, bin ich am Weihnachtabend nicht ausgegangen. Meine Schwester schickte gestern wohl zu mir, und als es dunkel wurde, dachte ich wohl daran, einmal hinzugehen; aber – die alte Uhr war auch wieder so drollig; es war accurat, als wenn sie immer sagte: Thu es nicht, thu es nicht! Was willst Du da? Deine Weihnachtsfeier gehört ja nicht dahin!“

Empfohlene Zitierweise:
Theodor Storm: Marthe und ihre Uhr. Altona: Verlag der Expedition des Altonaer Mercur's, 1848, Seite 56. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Volksbuch_f%C3%BCr_Schleswig_Holstein_und_Lauenburg_1848_056.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)