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der Wirrwarr war fertig. Bei einem solchen Übergang fiel unser Bettzeug ab, wurde aber glücklicherweise nicht naß. Hyvernat und ich wollten unsere Leute an ihre Pflicht erinnern durch eindringliche Vorstellungen. Nathanael aber, in seinem guten Naturell, fand tausend Gründe, um die Pflichtvergessenen zu entschuldigen. Aber bei dem nächsten Bächlein machte sein Pferd es nicht besser; da hielt die gute Natur Nathanaels nicht länger; mit kräftigen Flüchen erschöpfte er sein reichhaltiges Repertoire; was aber die Hauptsache war, in kurzer Zeit brachte er die ganze Gesellschaft in Ordnung.

Wir verzagten. Man hatte uns die Entfernung von Evoglu bis Choï auf drei Stunden angegeben. Aber anstatt der drei Stunden waren wir schon beinahe sieben auf dem Wege. Gegen halb ein Uhr langten wir daselbst an. Der gänzliche Mangel der Minarett und die geringe Höhe der Häuser in Choï bewirken, daß man beinahe nichts von der Stadt merkt, bis man dicht davor steht. Man sieht nichts als eine lange Mauer und hinter derselben einen Vorhang von Bäumen. Diese Mauer, die vor ungefähr fünfzig Jahren von Mirza Abbas erbaut worden ist, macht von weitem einen guten Eindruck; eine Gegenböschung und schön ausgeführte Schießscharten geben ihr ein respektables Aussehen. Von weitem macht die Mauer etwas aus; aber in der Nähe gesehen, verschwindet der ganze Nimbus; das Ganze ist aus Stampferde ausgeführt und verfällt wegen Mangels an Unterhaltung täglich immer mehr.

Die Karawanenherberge ist ziemlich dürftig untergebracht. Die Thüre ist so niedrig, daß man sich regelmäßig den Kopf stößt; von den Fenstern sind als einzige Reste nur die Rahmen übrig geblieben. Alle diese Umstände tragen entschieden dazu bei, den Ort zu einem wenig behaglichen zu machen. Der Hof ist mit Pferden angefüllt; alles ist mit Reisenden belegt, denn morgen reist die große Karawane der schiitischen Pilger nach Kerbela, um am Grabe Husseins zu beten.

Europäer und Arzt sind für den Orientalen gleiche Begriffe, weshalb wir bei einem erkrankten Pilger zu Rate gezogen wurden. Etwas Chinin konnte ihm nicht schaden, aber der arme Teufel hatte Fieber und eine schreckliche Dysenterie, die ihn ohne Zweifel in paar Tagen hinraffen werden; obgleich er schon im Sterben lag, wollte er doch noch mit der Karawane ziehen, bis er den letzten Seufzer aushauchen wird, was wohl auf dem Wege nach Kerbela geschehen ist; doch ein Schiite kann keinen schönern Tod finden.

Choï, das ungefähr 1136 Meter hoch liegt, gilt für eine der schönsten persischen Städte. Die Straßen sind breit, regelmäßig, mit Kanälen bewässert und mit Bäumen bepflanzt. Moscheen giebt es wenige, wie überhaupt wenig Baudenkmäler, weil die Erdbeben daselbst zu häufig vorkommen.

Als Persien und die Türkei noch zwei mächtige Staaten waren, war diese Stadt einer der bedeutendsten Stapelplätze für den Handel der beiden Reiche. Heute besitzt sie als Grenzplatz zwar auch noch einige Bedeutung. Sie ist der Hauptpunkt

des Weges von Erserum nach Bayasid,[1] von Wan nach Kotur und des Weges

  1. Es ist zu bemerken, daß Rußland, um Persien besser isolieren zu können, sich in dem Frieden von St. Stefano den Besitz von Bayasid und seines Thales hat zusprechen lassen; so bleibt also zwischen der Türkei und dem nördlichen Persien kein anderer Weg als der von Erserum, Wan, Kotur, Choï. Dabei zählte Rußland sicher auf die räuberischen Kurden, um den Weg für den Handel unmöglich zu machen. Hätte die Berliner Konferenz der Türkei dieses Gebiet zugesprochen, so würde England alles aufgeboten haben, um diesen Verbindungsweg frei zu erhalten.
Empfohlene Zitierweise:
Paul Müller-Simonis: Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen. Verlag von Franz Kirchheim, Mainz 1897, Seite 80. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Vom_Kaukasus_zum_Persischen_Meerbusen.pdf/102&oldid=- (Version vom 1.8.2018)