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Nathanael, der seine Familie seit zweiundzwanzig Jahren nicht mehr gesehen hatte, wünschte während dieses Ausfluges in Khosrawa zu bleiben; an seiner Stelle schickte er seinen Vetter Kascha Isaak mit, einen jungen chaldäischen Priester, der in der Propaganda seine Studien gemacht hatte und ein angenehmer Reisegefährte war.

Sergius beurlaubten wir auch während der Zeit des Ausfluges, da wir mit ihm nach unserer Rückkehr abrechnen wollten.

Als Führer bei unserm Ausflug empfahlen uns die Patres einen sehr ehrenwerten Räuber a. D., Gegu mit dem Beinamen Schaudi (Räuber der Nacht). Sie erzählten uns wunderbare Sachen von ihm, und ich werde mich bemühen, im Laufe der Schilderung eine kleine Biographie dieses Ehrenmannes zu geben.

25. September.

Wir brachen um zwei Uhr des Morgens auf; ein Missionar, Massol mit Namen, in Begleitung eines Gläubigen der Mission, Juhannah von Patavur gab uns das Geleite. Juhannah ist im Lande bekannt; durch seine große Gewandtheit im Schießen hat er es so weit gebracht, daß ihn die Kurden fürchten, denen er mehrfach stark zu Leibe gerückt ist. Ihm allein verdankt es sein Dorf, daß es von den lästigen Besuchen dieser unverbesserlichen Räuber verschont bleibt.

Die Reise beim Mondenschein ist angenehm und hat etwas Phantastisches an sich, dem jedoch auch ein gewisser Zauber nicht fehlt. Auf der Höhe der Schwefelquellen von Issisu (zu deutsch: Warmes Wasser) nahmen wir Abschied von Massol und setzten unsern Weg über Giavilen fort, indem wir den Ausläufer des Karabagh (zu deutsch: schwarzer Weinstock) überschritten. Von dieser Höhe hatten wir zuerst eine Aussicht auf den See von Urmia. Aber die Sonnenstrahlen reflektierten mit einer solchen Stärke auf dem Salzwasser, daß die ganze Landschaft dadurch einen harten, unangenehmen Anblick gewährte.

Der Priester in Giavilen empfing uns sehr liebenswürdig. Er ist ebenfalls ein chaldäischer, katholischer Geistlicher. Nach dem in der chaldäischen Kirche noch bestehenden Gebrauche ist er verheiratet. Da dies das erste Mal war, daß wir in das Innere eines solchen Pfarrhauses Eingang fanden, kam uns die Sache anfangs etwas eigentümlich vor. Während wir bei dem ausgezeichneten Manne speisten, kam der türkische Vize-Konsul von Urmia gerade an, ein Herr Reynard.[1]

Der Vize-Konsul behauptete, Kerim auf dem Wege begegnet zu sein; anfänglich glaubten wir es nicht, aber Gegu, der ein guter Freund Kerims ist, bestätigte die Aussage, indem er hinzufügte, daß er mit einem Mitgliede der Bande Kerims gesprochen habe. Kerim hielt uns für Russen, und ehe er wußte, daß wir unter der Führung Gegus standen, wollte er uns angreifen; aber Gegu schilderte uns als arme französische Derwische (Mönche), – meskin grengui baba derwisch – worauf der großmütige Räuberhauptmann uns in Ruhe zu lassen beschloß. Es stand also fest, daß Kerim keine sagenhafte Persönlichkeit war.

  1. Dieser beschäftigte sich früher mit dem Besorgen der Köcker von Nußbäumen, die des Maserholzes wegen in der Kunsttischlerei hoch geschätzt wurden und die ehemals in Kurdistan häufig vorkamen, weshalb auch diese Leute ein gutes Geschäft machten; heute ist die Zahl sehr gesunken. Diese Leute führen übrigens ein abenteuerliches Leben, ähnlich wie die Trapper in Amerika, und werden gewöhnlich Loupeurs genannt.
Empfohlene Zitierweise:
Paul Müller-Simonis: Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen. Verlag von Franz Kirchheim, Mainz 1897, Seite 90. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Vom_Kaukasus_zum_Persischen_Meerbusen.pdf/112&oldid=- (Version vom 1.8.2018)