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Tura-Galila und der Tura-Gelka können sich mit ihren Gletschern würdig den Alpen zur Seite stellen.

Ankunft 6 Uhr 40 Minuten des Abends.

Nach anstrengendem Klettern erreichten wir das Dorf Pilunkiegh. Dieses liegt am Fuße eines Felsen, der in dem Halbschatten den Eindruck eines liegenden, riesenhaften Löwen macht. Pilunkiegh zählt nur einige Hütten. Wir schliefen in dem Palast des Dorfes, einer Loggia auf einem Pferdestall, die zwar einen herrlichen Blick auf die Berge gestattete, aber nur von drei Seiten verschlossen war; den Verschluß an der vierten Seite ersetzten wir, so gut es ging, durch unsere Plaids.

Szene aus Pilunkiegh.

Nach dem Abendessen kam der kurdische Hausherr, um uns Gesellschaft zu leisten. Ganz erstaunt waren wir, als wir sahen, daß seine Frau ihn begleitete und dazu nicht einmal verschleiert war. Ihr Profil ist beinahe schön zu nennen, nur macht es einen zu harten Eindruck. Sie trug ein georgisches Diadem, und die Lumpen, die aber die kurdische Künstlerin verrieten, kleideten sie herrlich. Sie brachte den ganzen Abend bei uns zu; hier ist man von der Zurückgezogenheit der persischen Frauen weit entfernt. Man merkt, daß diese Frau, ungeachtet ihrer tieferen Stellung, doch in Wirklichkeit die Herrin des Hauses ist. Ihr kleines Mädchen im Alter von zehn Monaten sah ganz munter und wild aus.

Diese Überlegenheit der kurdischen Frauen ist von fast allen Reisenden bemerkt worden. Da die Bevölkerung ein halbes Nomadenleben führt, und die Frau an allen Gefahren desselben teilnimmt wie an allen Anstrengungen des Mannes und zuweilen Proben eines außerordentlichen Mutes ablegt, so ist sie allmählich dazu gekommen, sich in der Familie eine höhere Stellung zu erobern. Was die Männer betrifft, so kann man auf jeden von ihnen das türkische Wortspiel anwenden: „Kurd-Kurd“. Im Türkischen bezeichnet einmal das Wort Kurd den Namen des Stammes und ein anderes Mal den Wolf. Dieses Zusammentreffen zwischen dem räuberischen Sinn des Volkes und dem des Wolfes, dessen Namen das Volk auch trägt (im Türkischen), ist pikant.

Pilunkiegh scheint nur eine Sommerstation zu sein; denn die Menge der Herden, die sich während der Nacht um das Dorf drängen, steht in keinem Verhältnis zu den Ställen; auch scheinen die Wohnungen nicht für den Winter eingerichtet.

Empfohlene Zitierweise:
Paul Müller-Simonis: Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen. Verlag von Franz Kirchheim, Mainz 1897, Seite 121. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Vom_Kaukasus_zum_Persischen_Meerbusen.pdf/143&oldid=- (Version vom 1.8.2018)