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war, brachte es fertig, die interessantesten Stellen der Petition heimlich zu lesen. Er erfaßte ihren wahren Sinn und deckte die Schurkerei auf. Nun geriet das Volk in gerechte Entrüstung, so daß die größten Unordnungen zu befürchten waren. Jetzt trat Scherifoff in Thätigkeit, da der russische Konsul gerade abwesend war. In Begleitung seiner Leute ging er zum Wali und drohte diesem; dann beruhigte er die Bevölkerung. Doch gab er sich damit nicht zufrieden, sondern setzte eine Gegenpetition in Umlauf, die bald mit Unterschriften bedeckt war, und die er nach Konstantinopel gelangen ließ.

Der Wali bekam Furcht, doch gelang es ihm durch einige Lügenkunststücke, sich im Sattel zu halten. Keiner der Eingesperrten wurde freigelassen; Monat auf Monat verrann, ohne daß sie vor Gericht gestellt wurden. Ein unglücklicher junger Mann wurde vierundzwanzig Stunden aufs Kreuz angespannt, wobei ihm Kugeln an den Füßen befestigt wurden, damit er so gezwungen wurde, die eingebildete Verschwörung zu gestehen; ein armenischer Priester wurde mitten im Winter stundenlang in eiskaltes Wasser getaucht; ein anderer junger Mensch wurde durch Kolbenhiebe beinahe von dem Tabur Agassi getötet. Die Schurkereien wurden bekannt, und das Volk rottete sich von neuem zusammen, aber der Wali zog sich wieder durch Lügen aus der Klemme. Während dieser Unruhen hätten beinahe die Regierungsbeamten die kurdischen Bergbewohner zur Niedermetzelung der Christen angeführt; nur der Anwesenheit des Konsuls ist es zu verdanken, daß dies damals unterblieb. In ähnlicher Weise hat es auch bei den grausamen Metzeleien zu Ende 1895 und zu Anfang des Jahres 1896 gegangen, wobei z. B. in Urfa allein gegen 8000 Armenier ermordet wurden.

Wiederholt ist bereits des würdigen Gehülfen des Walis, nämlich des Tabur Agassi oder Polizeichefs – Derwisch Agha heißt der Edle – Erwähnung geschehen und zwar in keiner schmeichelhaften Weise; offen gesagt, er verdient es nicht besser. Ein tierischer Kopf mit vorspringenden Wangenknochen unter den grauen, stets zur Seite blickenden Augen, eine zurücktretende Stirn, das ist das physische Portrait seiner Persönlichkeit.

Noch schwerer hält es, das moralische Bildnis dieses Menschen zu beschreiben. Die „berühmten“ armenischen Verschwörungen waren für ihn ein gutes Mittel zur Befriedigung seiner viehischen Laster. Unter dem Vorwande einer gerichtlichen Haussuchung durchstöberte er die armenischen Häuser und zwang die Armenier um den Preis ihrer Freiheit, ihm ihre Weiber auszuliefern. Und dieses ist nicht ein einzelstehender Fall, sondern eine häufig vorgekommene Thatsache. Man muß sich nur wundern, daß sich bis jetzt noch kein Armenier gefunden hat, der dieser Bestie eine Kugel durch den Schädel gejagt hat. Was noch schlimmer ist: Viele Armenier erkauften seine Freundschaft, indem sie ihm in diesem schändlichen Treiben freie Hand ließen.

So lange Derwisch Agha an dem armenischen Element seine Leidenschaft befriedigte, war es für ihn weiter nicht gefährlich. Aber er fand Gefallen an der Sache, was ihn dazu trieb, daß er kurze Zeit nach unserer Ankunft die Frau eines türkischen Offiziers schändete. Aber jetzt wandte sich das Blatt zu seinen Ungunsten. Da Derwisch Agha selbst Offizier ist, wird er vor ein Kriegsgericht gestellt werden, und es ist „möglich“, daß er verurteilt wird. Überhaupt beunruhigte ihn die Sache,

Empfohlene Zitierweise:
Paul Müller-Simonis: Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen. Verlag von Franz Kirchheim, Mainz 1897, Seite 162. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Vom_Kaukasus_zum_Persischen_Meerbusen.pdf/184&oldid=- (Version vom 1.8.2018)