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dem alten Glanze Wans übriggeblieben ist; wir wollen jetzt hören, was Wan früher war.

Nach Moses von Chorene[1] befand sich Semiramis, nachdem sie Armenien erobert hatte, mit ihrem Heere an den Ufern des Sees von Wan. Bezaubert von dem schönen Anblick, der angenehmen Temperatur, dem üppigen Grün des Landes und der Güte der Gewässer auf der Ostseite des Sees, faßte sie den Entschluß, hier eine königliche Residenz zu gründen und von da ab ihren Sommeraufenthalt daselbst zu nehmen.

Sie wählte eine schöne Stelle an der südöstlichen Seite aus, die sich nach Norden hin sanft abdachte, während sie nach Süden zu steil abfiel.

Von Assyrien ließ sie 12 000 Arbeiter kommen, die bei ihren Arbeiten von 600 Architekten geleitet wurden, die als geschickte Künstler mit der Verarbeitung des Holzes, der Steine, des Eisens und des Erzes vertraut waren. Man begann die Arbeiten mit der Anlegung einer sehr großen Esplanade, die aus großen Felsstücken gebildet wurde; ein Mörtel von Kalk und Sand verband diese Steine. Diese Konstruktion war so solid, daß sie zu der Zeit unseres Geschichtsschreibers noch nichts gelitten hatte. Solange der Mörtel vorhanden war, konnte man, wie Moses von Chorene erwähnt, keinen einzigen Stein losreißen. Die Steine waren so gut poliert und geglättet, daß sie von ihrem Glanz noch nicht das Mindeste verloren hatten.

Diese Esplanade, unter der man weite Höhlen angebracht hatte, die zur Zeit des Moses von Chorene den Briganten des Landes als Zufluchtsort dienten, verlängerte sich um mehrere Stadien (eine Stadie = ungefähr 180 Meter) bis zu der Stelle, wo die neue Stadt gegründet werden sollte. Diese Stadt wurde in dem kurzen Zeitraum einiger Jahre vollendet, mit festen Mauern umgeben und mit Thoren von Erz geschmückt; man errichtete daselbst auch Paläste aus Steinen von verschiedener Farbe, mit schönen Terrassen bedeckt; desgleichen fehlte es nicht an öffentlichen Plätzen und einer genügenden Anzahl von Bädern. Kanäle verteilten in den verschiedenen Vierteln und in den Gärten das Wasser aus der Nachbarschaft; rechts und links von der Stadt wurden in dem Lande Marktflecken angelegt, desgleichen herrliche Anpflanzungen von Obstbäumen und Weinstöcken, und eine Menge Einwohner wurde herangezogen.

Nach Moses von Chorene ist es einfach unmöglich, alle Wunder dieser Stadt zu beschreiben. In seiner Geschichte kommt er dann wieder auf die schon erwähnte große Esplanade zurück und erzählt, daß Semiramis, nachdem die Stadt mit den stärksten Verteidigungsmitteln ausgerüstet war, daselbst königliche Wohnungen anlegen ließ; den Zu- und Ausgang an denselben ließ sie schwer zugänglich machen, da man nur durch die schrecklichen Höhlen zu denselben gelangen konnte. Moses von Chorene wußte nicht, auf welche Weise diese Anlagen hergestellt wurden, aber, fügt er hinzu, es ist das schönste und größte Denkmal der Könige. Der Stoff, fährt er fort, der die Südseite dieses Monumentes bildet, ist so hart, daß es unmöglich

  1. Er war geboren 370 nach Christus und starb 489. Er schrieb eine Geographie und Geschichte Großarmeniens und stand mit den gelehrtesten Männern seiner Zeit in Verbindung; er übersetzte auch fremdsprachliche Werke ins Armenische.
Empfohlene Zitierweise:
Paul Müller-Simonis: Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen. Verlag von Franz Kirchheim, Mainz 1897, Seite 174. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Vom_Kaukasus_zum_Persischen_Meerbusen.pdf/196&oldid=- (Version vom 1.8.2018)