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freilich vermeiden wollte – die Vollendung der Mission unmöglich gemacht zu haben. Endlich mußte er nachgeben; um die Wahrheit zu sagen, müssen wir gestehen, daß er nicht länger auf seinem Verlangen zu bestehen wagte, und uns nicht bloß einen Buyuruldu ausstellte, sondern uns sogar noch ein Empfehlungsschreiben an den Wali von Bitlis mitgab.

Aber jetzt handelte es sich um die Wahl des Weges. Der gewöhnliche Weg von Wan nach Bitlis folgt dem Südufer des Sees bis Tadwan. Die jüngsten Nachrichten aber meldeten, daß die Route wegen des Schnees unbrauchbar geworden war. Die Berge auf dieser Strecke fallen ungefähr senkrecht in den See ab, und das Ufer liegt nach Norden, wo die Sonne weniger Gewalt ausüben kann, weshalb sich dort der Schnee gewöhnlich hoch anhäuft. Die erwähnte Karawane war noch nicht angekommen, so daß man ihretwegen schon in Unruhe war.

Wir mußten uns also einen anderen Weg suchen, der auch bald gefunden war; es ist nämlich der Weg nach Norden zu um den See über Ardschisch und Akhlat. Zwar ist er viel länger, aber die weniger schroffen Berge sind mehr der Mittagssonne ausgesetzt; das Land ist interessant, noch wenig besucht – kurz, wir waren zufrieden, daß wir in die Notwendigkeit versetzt wurden, auf diese Weise unsere Reise zu verlängern. Übrigens waren wir nicht ganz sicher, ob wir Bitlis erreichen konnten, denn unser Weg trifft den gewöhnlichen Pfad nach Tadwan und Bitlis auf der Hochebene, die das Becken des Wansees von dem Bitlis-Tschai trennt. Was machen? Wir entschlossen uns, auf gut Glück zu reisen.

Die letzte Woche unseres Aufenthaltes in Wan wurde durch ein heftiges und sehr schmerzhaftes Unwohlsein des Vaters Rhetorius getrübt. Glücklicherweise war er am Tage unserer Abreise wieder ziemlich hergestellt; er wollte uns sogar noch eine Strecke das Geleite geben.

21. November.

Endlich sollten wir aufbrechen. Der Diwan wurde den ganzen Tag nicht leer; alle unsere Bekannten in Wan kamen, um uns eine gute Reise zu wünschen. Unter diesen Umständen hielt es für uns schwer, die letzten Vorbereitungen zur Reise zu treffen. Endlich gegen Mittag beim schönsten Wintersonnenschein, der der ganzen Landschaft von Wan eine schöne Färbung gab, verließen wir das gastliche, kleine Haus der Dominikaner, begleitet von einer ganzen Kavalkade unserer Freunde.

Wir wandten uns auf Agantz zu, und beim Ausgang dieses Dorfes hielten wir ein letztes Freundschaftsmahl. Darauf kehrten Pater Rhetorius, Michel Kowadenski und unsere andern Freunde in die Stadt zurück; Vater Duplan wollte noch unser erstes Nachtlager mit uns teilen.

Wir Wandervögel werden ohne Zweifel diese Orte nie mehr wiedersehen; werden wir den einen oder andern unserer Freunde, die uns so bereitwillig aufgenommen haben, jemals wiedertreffen? Indem wir von Wan Abschied nahmen, konnten wir ein Gefühl der Traurigkeit nicht unterdrücken; denn es ist wahr, nirgendwo läßt der Mensch so viel von seinem Sein und seinem Herz, als da, wo er kämpfen und sich starr halten muß gegen Hindernisse, als da, wo ihm die Freundschaft zuerst von der schönsten Seite erschienen ist, nämlich in der Gestalt der herzlichen und großmütigen Gastfreundschaft in einem fremden Lande! Von weitem wird noch ein

Empfohlene Zitierweise:
Paul Müller-Simonis: Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen. Verlag von Franz Kirchheim, Mainz 1897, Seite 197. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Vom_Kaukasus_zum_Persischen_Meerbusen.pdf/219&oldid=- (Version vom 1.8.2018)