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letzter Gruß gewechselt, und wir verloren unsere Freunde allmählich aus dem Gesichte.

Bald kamen wir aus der so merkwürdig geschützten Gegend heraus, deren Mittelpunkt Wan bildet, und trafen auf hohen Schnee. Das Aussehen des Himmels schien anderes Wetter zu verkünden; die Berge von Bitlis, denen wir vorläufig den Rücken zukehrten, waren in dicke Wolken eingehüllt, die sich dort schon vierzehn Tage befanden und nun auf Wan zu zogen.

Das Dörfchen Derlaschenn, wo wir ein Unterkommen für die Nacht suchten, ist sehr arm; wahrscheinlich waren wir in Wan verwöhnt worden, da wir einen Pferdestall als eine schlechte Ruhestätte fanden.

22. November.

Um acht Uhr des Morgens reisten wir ab; Pater Duplan verließ uns, um nach Wan zurückzukehren; werden wir ihn je wiedersehen?

Das Terrain bildet eine wellenförmige Hochebene; überall ist alles mit Schnee bedeckt, der im Verein mit dem bewölkten Himmel der Landschaft ein trauriges Aussehen verleiht.[1]

Beim Verlassen des Dorfes Schahgeldi trafen wir Kolubakin, der von Kars zurückkehrte. Durch die Kälte und die Sonne schälte sich die Haut seines Gesichtes ab, was uns keine angenehmen Aussichten eröffnete.

Der Konsul brachte Neuigkeiten von Kerim, dem berüchtigten Briganten, mit. Gegen Ende unseres Aufenthaltes in Wan war das Gerücht verbreitet, daß Kerim gefangen worden sei; wir scherzten ein wenig darüber mit seinem Freunde Gegu; aber Gegu antwortete uns, indem er den Kopf schüttelte: „Kerim nicht gefangen, Kerim niemals ergriffen werden,“ und begleitete seine Worte mit einem verächtlichen Lächeln. Gegu hatte recht. Kerim hatte soeben wieder ein Meisterstück ausgeführt. In den Bergen von einer Abteilung Kavallerie und 300 Infanteristen eingeschlossen, hatte er einen ganzen Tag lang diesen Mannschaften mit fünf seiner Bande Stand gehalten. Drei seiner Leute wurden getötet und er selbst verwundet. Dies hinderte ihn aber nicht, mit seinem berühmten Genossen Ibrahim die feindliche Linie zu durchbrechen und nach Persien zu entkommen. Dadurch ist Kerim noch sagenhafter geworden.

Einige Zeit vorher hatte man ihn in einem Hause umzingelt und glaubte seiner ganz sicher habhaft zu sein; aber während der Nacht schnitt er mit seinem Kindschar eine Öffnung in die aus Erde angefertigte Mauer des Hauses, wo er umzingelt war, und, gleichsam als ob er sich schämte, sich heimlich davon zu machen, erdolchte er fünf Mann und machte sich mit ihrer Munition davon.

Im übrigen ist Kerim ein Galanthomme. Als er noch in der Umgegend von Tiflis praktizierte, hielt seine Bande einst eine Gesellschaft russischer Ausflügler an und plünderte sie; eine Dame, der man ihre wertvollen Schmucksachen weggenommen hatte, weinte bitterlich. „Ich soll Frauen weinen lassen!“ rief Kerim aus und ließ der Klagenden ihre Schmucksachen zurückgeben.

  1. Texier, der jene Gegend zu einer besseren Jahreszeit durchreist hat, sagt: „das ganze von uns durchreiste Terrain ist unangebaut, es ist gebildet von abgerundeten Kugeln, die sämtlich der Kreideformation angehören.“ Texier, Arménie II. 5.
Empfohlene Zitierweise:
Paul Müller-Simonis: Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen. Verlag von Franz Kirchheim, Mainz 1897, Seite 198. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Vom_Kaukasus_zum_Persischen_Meerbusen.pdf/220&oldid=- (Version vom 1.8.2018)