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Kerim hat überall Freunde; die einen fürchten ihn, während ihn die andern lieben, alle aber bewundern ihn. Seit Jahren ist ein Preis auf seinen Kopf gesetzt, aber er lacht darüber. Er ist ein Halbgott und kann nur durch Verrat seinen Feinden in die Hände fallen.

Bald nachdem wir uns von Kolubakin verabschiedet hatten, erreichten wir die Ufer des Sees wieder, die wir schon seit Wan aus den Augen verloren hatten. Der See bildet hier einen tiefen und malerisch eingefaßten Golf, den man gewöhnlich den See von Ardschisch nennt.

Das armenische Dorf Merik (oder Merek), das wir gegen Abend erreichten, liegt sehr anmutig an der Seite eines Hügels, auf dem eine alte, sehr gut besuchte Wallfahrtskirche steht.[1]

Der Vorsteher des Dorfes erzeigte uns in seinem Hause Gastfreundschaft und wies uns ein gutes Zimmer an, das hinreichend groß und weit genug von dem Pferdestall entfernt war.

23. November. Abreise 7½ Uhr.

Indem wir Merik verließen, näherten wir uns wieder dem See auf einem Pfade, den das Eis in einen erbärmlichen, unbrauchbaren Zustand versetzt hatte. Je weiter wir gingen, um so schöner wurde der „See von Ardschisch.“ Dem Auge erscheint er nicht mehr als ein Golf des Wansees, sondern als ein besonderer See, den der mächtige Sipan-Dagh nach Westen zu wunderschön abschließt. Es ist schwer, sich eine großartigere Einsamkeit zu denken als die des blauen Sees mit seiner Einfassung von weißen Bergen, auf denen das Sonnenlicht blitzt; man fühlt sich wirklich allein mit Gott, und es scheint, als ob der Mensch durch den Anblick dieser großartigen Natur selbst emporgehoben würde.

Nachdem wir am Ende des Golfes von Ardschisch angekommen waren, ließen wir das Gepäck geradenwegs nach Karakhan bringen, während wir uns östlich wandten, um das alte armenische Dorf Khorsot zu besuchen, wo wir Keilinschriften finden sollten. Das Panorama dieser Gegend ist überaus herrlich.

Das Thal des Bendimahi-Tschaï, das tief in die Gebirge einschneidet, bildet eine schöne Ebene, über der sich gegen Nordosten das Gebirgsmassiv des Tandurek erhebt, während uns gegenüber (nach Osten) im Sonnenlicht der weiße, schneebedeckte Pik des Pir-Rischid funkelt (unsere Leute nennen ihn Agthe-Dagh).

Khorsot, das hoch auf einem Ausläufer des Gebirges hängt, scheint uns weniger armselig zu sein als der Durchschnitt der armenischen Dörfer. Niemand in Khorsot hatte je in seinem Leben von Keilinschriften etwas gehört, so daß wir durch unsere Fragen darnach das ganze Dorf in Aufregung brachten. Die Ältesten des Dorfes riefen ihre alten Erinnerungen wach, aber alle Beratungen blieben ohne Ergebnis. Endlich führte man uns auf den Kirchhof, wo wir der Reihe nach alle Grabsteine nach Keilinschriften untersuchten, aber vergeblich. Beinahe jedes Grab ist mit einer großen Basalt-Steinplatte geziert, die auf dem Boden liegt und

  1. Texier giebt die Höhe Meriks auf 1712,7 Meter an. Der Durchschnitt unserer barometrischen Beobachtungen zeigt 1850 Meter Höhe. Texier verwechselt übrigens die Kirche von Merik mit dem Kloster des Berges Warak. (II. 5).
Empfohlene Zitierweise:
Paul Müller-Simonis: Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen. Verlag von Franz Kirchheim, Mainz 1897, Seite 199. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Vom_Kaukasus_zum_Persischen_Meerbusen.pdf/221&oldid=- (Version vom 1.8.2018)