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1. Dezember.

Um 7½ Uhr reisten wir bei einem unfreundlichen Wetter ab. Das Auftauen ging weiter vor sich, so daß die ganze Atmosphäre von einer kalten, durchdringenden Feuchtigkeit erfüllt war. Nach Verlauf einer kleinen Stunde hatten wir für immer diese reizenden Ufer des für uns so erinnerungsreichen Sees von Wan verlassen. Ob es dieser Gedanke war oder das unfreundliche Wetter oder vielmehr die Verbindung der beiden Umstände, kurz, wir waren traurig gestimmt und stiegen melancholisch den sanften Abhang hinauf, der zu der Wasserscheide von Tadwan führt. Um zu ihr zu gelangen, bedurften wir ungefähr einer Stunde; nach dem Barometer liegt sie ungefähr hundert Meter höher als das Niveau des Sees. Die barometrische Höhe von Tadwan war: 618,5 Millimeter; die Höhe des Passes 610 Millimeter.

Diese Wasserscheide bildet ein großes Plateau, das von hohen Bergen eingeschlossen ist, die gleichsam drei Durchlässe bilden. Der breiteste ist der, durch den das Plateau mit dem See in Verbindung steht; der nördliche Durchlaß, durch den es mit dem Thale des Kara-Su, der den Distrikt von Musch bewässert, verbunden ist, hat keine so große Breite; der schmälste der dreien ist das nach Süden gerichtete Thal des Bitlis-Tschaï.

Der Schnee verhinderte uns, die Natur des Terrains zu bestimmen; aber tiefer hinab, wo derselbe verschwunden war, konnte man ganz deutlich die vulkanischen Ausflüsse erkennen, die das Thal anfüllen.

Obgleich ich kein Geologe bin, kann ich doch nicht der Versuchung widerstehen, hier eine kleine Hypothese aufzustellen.

Nach meiner Ansicht war zu der Zeit der größten vulkanischen Thätigkeit des Nimrud und des Sipan der Wansee von sehr kleinem Umfange und ergoß sich in den Bitlis-Tschaï; vielleicht existierte der See selbst nicht einmal in jener Zeit. Das Thal des Bitlis-Tschaï, das zu jener Zeit noch frei von vulkanischem Schlamme u. dgl. war, hatte infolgedessen auch eine größere Tiefe und stand mit dem Thale des Bendimahi-Tschaï und des Coschab in Verbindung. Eines Tages schnitt der Nimrud-Dagh mit seiner Lava das Thal des Bitlis-Tschaï ab und legte hierhin die schon erwähnte Schwelle oder Wasserscheide von Tadwan, veränderte sein Relief durch die bedeutenden Lavaausgießungen stromabwärts sehr und schloß alles Wasser stromaufwärts in ein Becken ein, das heute Wansee heißt; von der vulkanischen Thätigkeit empfing auch das Wasser seinen besondern Salzgehalt.

Diese Hypothese schien mir annehmbar, auch schon aus dem Grunde, weil die verlängerte Form des Sees von der Mündung des Bendimahi-Tschaï bis zur „Schwelle“ von Tadwan dafür spricht, und auch weil die Achse des Sees mit der Achse des Bitlis-Tschaï und des Bendimahi-Tschaï zusammenfällt, so daß es scheinen muß, als ob man auf dem Grunde des Sees dem alten, jetzt mit Wasser angefüllten Thale folgen könnte. Hierzu gehört nicht der südöstliche Teil des Wansees, jener Golf, in dessen Hintergrund Wan liegt, der wahrscheinlich ein unter Wasser gesetzter Teil der Thäler des Coschab und des Marmed-Tschaï ist. Die heute unter Wasser gesetzten Thäler hatten ohne Zweifel das Aussehen von Hochplateaus (wie man sie in dem oberen Teile des Zab (Albag) heute noch häufig antrifft) wodurch sich auch die große Breite erklären läßt, die der See annahm, als er die Thäler füllte.

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Paul Müller-Simonis: Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen. Verlag von Franz Kirchheim, Mainz 1897, Seite 222. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Vom_Kaukasus_zum_Persischen_Meerbusen.pdf/244&oldid=- (Version vom 1.8.2018)