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Das von diesem Deiche eingeschlossene Wasser ist aber nicht hinreichend, um das große Becken ganz auszufüllen, bis zur Wasserscheide von Tadwan zu steigen und den alten Lauf durch den Bitlis-Tschaï wieder aufzunehmen. Die starke Verdunstung des Sommers, vielleicht auch der eine oder andere unterirdische Wasserablaß[1] genügten, um den Zuflüssen das Gegengewicht zu halten, und so ist es gekommen, daß sich das Niveau des Sees ungefähr hundert Meter tiefer befindet als die „Schwelle“ von Tadwan; aber da dieses Niveau von der Verdunstung und den klimatischen Veränderungen abhängt – also von Wärme und Regen – so genügen diese, um jetzt noch mehr oder weniger periodische Wechsel in dem Niveau eintreten zu lassen, deren Spuren sich an den Ufern des Sees wiederfinden, und die zu verneinen mir die beständige Versicherung der Uferbewohner verbietet.

Ich beanspruche selbstverständlich den Glauben der Leser an diese Hypothese nicht, wenngleich ich sagen darf, daß sie mich vollständig befriedigt.

Jetzt wollen wir zur „Schwelle“ von Tadwan zurückkehren.

Dieses von hohen Gebirgen eingeschlossene Plateau mit seinen drei Wasserdurchlässen, die bereits erwähnt worden sind, ist der Gewalt der Stürme ganz besonders ausgesetzt; es ist dies die berüchtigte Ebene, vor der man uns in Wan so viel Furcht eingeflößt hatte. Der Schnee soll sich hier zu einer Höhe von vier bis fünf Metern aufhäufen. Und wirklich waren wir trotz des Tauwetters, das den größten Teil des Weges passierbar gemacht hatte, noch immer unangenehmen Überraschungen ausgesetzt. Unter einer harmlosen Schneedecke verbergen sich tiefe Löcher, so daß man sehr vorsichtig sein muß, wenn man nicht in dieselben fallen will. Von Tadwan aus bedarf man drei Stunden, um dieses Plateau zu überschreiten. Zuweilen kommt es auch vor, daß ein Wirbelwind größere Schneemassen aufstöbert und eine ganze Karawane darunter begräbt. Diese Landschaft rechtfertigt also ihren schlimmen Ruf vollständig; zu den Zeiten, wo man sich in dieser Gegend für die Reisenden noch etwas Mühe gab, hatte man auf diesem ungastlichen Plateau komfortable und elegante Khans eingerichtet.

Der erste Kahn befindet sich ungefähr anderthalb Stunden von Tadwan, ein

wenig hinter der Wasserscheide.[2] Die Legende läßt die Gründung desselben vor vierhundert Jahren durch einen gewissen Khosru Pascha geschehen. Er ist eine wirkliche Festung, dieser großartige Bau aus Hausteinen. Das Innere des Khans setzt sich aus großen parallellaufenden Gängen mit spitzbogigen Gewölben zusammen, deren Pfeiler selbst durch gleichartige Spitzbogen verbunden sind. Dieser Khan ist mit einer beträchtlichen Zahl von Schornsteinen ausgerüstet. Man sieht deutlich, daß alles eingerichtet war, um den Reisenden lange Zeit ein Asyl gewähren zu

  1. Die Hypothese der unterirdischen Abflüsse ist bis hierher willkürlich angenommen. Der ganz besondere Salzgehalt der Gewässer des Sees, der sich natürlich in dem Wasser eines solchen Abflußkanals finden müßte, würde das beste Mittel zum Beweise dafür bieten. Genau genommen kennt man aber bis heute keinen einzigen Bach, dessen Salzgehalt dem des Wassers aus dem Wansee entspricht. Layard, der das starke Ausströmen der Quellen von Meuks-Su bemerkt, sagt aber nicht und läßt auch nicht ahnen, daß dieselben salzhaltig sind. (Discoveries in the ruins of Niniveh and Babylon S. 416.)
  2. Ainsworth (II, 373) giebt diesem Khan eine Höhe von 5690 Fuß (1734,5 Meter) und nennt ihn Back-Khan (Khan mit dem Kopfe der Gewässer).
Empfohlene Zitierweise:
Paul Müller-Simonis: Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen. Verlag von Franz Kirchheim, Mainz 1897, Seite 223. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Vom_Kaukasus_zum_Persischen_Meerbusen.pdf/245&oldid=- (Version vom 1.8.2018)