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Ich muß noch eine Ursache anführen, weshalb manche Dörfer verarmen, die an den Hauptverkehrswegen liegen. Es ist dies die Gewohnheit der Beamten, sich und ihr Gefolge großartig beherbergen zu lassen, ohne das Geringste zu bezahlen.[1] Es kann darum auch nicht wunder nehmen, wenn man heute so viele Dörfer findet, die nichts weiter als Ruinen sind.

Der Leser wird vielleicht denken, ich trage die Farben etwas stark auf. Leider ist meine Schilderung nur zu wahr. Die angeführten Thatsachen sind mir zum größten Teil von ernsthaften Leuten, zuweilen sogar von Beamten selbst geliefert worden. Die Dorfbewohner sind furchtsam und deshalb auch weniger zugänglich. Selbst wenn bei der Schilderung das eine oder andere zu graß dargestellt wäre, so bliebe doch eine allzutraurige Wirklichkeit.

7. Dezember.

Wir besuchten eine patriarchalische Familie; dieselbe besteht aus ungefähr sechzig Personen, die alle um das Haupt der Familie in dem Klan vereinigt waren. Die Familie Dgibro (Abkürzung von Dgibraïl, Gabriel) ist die angesehenste unter den chaldäischen Familien in Saïrd; früher war sie ebenso mächtig als reich, und ihre Wohnung sah einem Palaste ähnlich. Heute ist davon aber wenig mehr zu bemerken. Die Nachlässigkeit hat alles verdorben. Man führt keine Register mehr. Die besondern Rechnungen werden auf einen Fetzen Papier geschrieben und in einem Sack eingeschlossen. Um Licht in irgend eine Angelegenheit zu bringen, muß man alle diese Papiere vergleichen, aber dieses Geschäft ist langweilig. Man verschließt die Papiere wieder, bis man eines Tages merkt, daß es schlecht steht; aber dann ist es gewöhnlich zu spät. Dieser Verfall thut weh.

Eine neue türkische Formalität. Bei der Abreise von Wan hatte uns der Wali erklärt, da wir einen Bunuruldu hätten, bedürften wir keines Teskeres für unsere Katerdschis und unsere Bedienten. Hier verlangte man sie aber von uns, und wir waren gezwungen, solche für den Rest der Reise zu lösen. Glücklicherweise wollte man uns hier weiter nichts in den Weg legen; es handelte sich nur darum, einige Medschidies einzusacken.

Da das Wetter etwas besser geworden war, machten wir dem Kloster Deir-Mar-Yakub einen Besuch. Es liegt ungefähr eine Stunde von Saïrd und beherrscht das Thal des Bohtan. Der Name rührt von einem chaldäischen Mönche, Mar-Yakub, her, der sehr verehrt wird und dessen Grab man heute noch zeigt. Das Kloster selbst ist ein sehr einfacher Bau, armselig und kaum bewohnt. Außer andern Manuskripten zeigte man uns hier eine sehr schöne chaldäische Bibel aus dem neunten oder zehnten Jahrhundert.

Einige Minuten von dem Kloster entfernt, überragt der senkrecht stehende „Stein des Löwen“ das Thal um 300 Meter. Das Panorama ist großartig. Der Bohtan-Su, von steil abfallenden Felsenklüften überragt, scheint sich stromabwärts

  1. Früher wenn die Beamten oder Soldaten ihr Quartier in christlichen Häusern nahmen, ließen sie sich nicht bloß großartig bewirten und schändeten regelmäßig die Frauen, sondern bei der Abreise erpreßten sie auch noch einen Mundvorrat von den Unglücklichen, anstatt diese zu bezahlen; sie nannten dies „sich bezahlen lassen für die Ehre, die sie dem Christenhunde erwiesen, daß sie etwas von ihm annahmen.“ Ich führe diese Thatsachen hier an, weil sie mir namentlich auch von Bulgarien her versichert worden sind; aber ganz sicher kommen sie auch noch in andern Teilen des ottomanischen Reiches vor.
Empfohlene Zitierweise:
Paul Müller-Simonis: Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen. Verlag von Franz Kirchheim, Mainz 1897, Seite 238. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Vom_Kaukasus_zum_Persischen_Meerbusen.pdf/260&oldid=- (Version vom 1.8.2018)