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in enge Schluchten zu verwickeln, während er in seinem obern Laufe ein breiteres und fruchtbares Thal bewässert.

Nahe bei dem Flusse wachsen einige schöne Terpentinbäume.[1] Zwischen Deir-Mar-Yakub und Saïrd finden sich die Ruinen eines seit einigen Jahren verlassenen Dorfes. Die Kurden fielen hier so oft ein, daß die armen Leute sich gar nicht halten konnten. Auf die Beschwerden der Armen antwortete die Behörde: „Kennt ihr die Schuldigen? Bringt uns mit euren Zeugen die Schuldigen, und sie werden eingekerkert werden.“ Dieses Verlangen erinnert doch zu sehr an das Lamm, das den Wolf vor den Schäfer schleppen sollte. Besonders auffällig wird die Sache noch dadurch, daß diese Räubereien sich gerade vor den Thoren Saïrds ereigneten. Wie mag es dann in den weiter entfernten Orten eigentlich zugehen?

Zwischen Saïrd und Deir-Mar-Yakub bemerkt man auch die Ruinen einer Stadt oder eines Dorfes, dessen Zerstörung in einer weit entlegenen Zeit geschehen sein muß. Die Überlieferung, welche diesen Ort Hadarwiß nennt, erzählt auch, daß hier ehedem ein mächtiger Emir geherrscht habe. Die Stadt wurde vor fünf, oder sechshundert Jahren in einem Kriege zerstört. Man versicherte uns, daß sich hier noch viele Altertümer fänden: Götzenbilder und griechische Medaillen. Es müßte sehr interessant sein, hier Nachgrabungen veranstalten zu können; vielleicht könnte man eine der rätselhaften Städte entdecken, deren Namen uns von den griechischen und römischen Geographen überliefert worden sind.

An dem folgenden Tage wollten wir Saïrd verlassen, aber da entstand ein bedeutendes Hindernis. Ohne Zabtiehs kann man wegen der Brigantenwirtschaft nicht reisen. Aber die tapferen Gendarmen der Saïrder Garnison strikten. Seit längerer Zeit hatten sie keinen Sold mehr empfangen, und ehe sie nicht wenigstens eine Abschlagszahlung erhalten hatten, wollten sie auch keinen Dienst mehr thun. Der berittene Zabtieh soll dreihundertzehn Piaster für den Monat bekommen, der Fußzabtieh hundertfünfundvierzig. Aber wenn sie mit ihrer Anweisung zur Kasse kommen, lautet die stereotype Antwort des Kassierers: „Die Kasse ist leer, ich habe kein Geld.“ Zuweilen kommt dies bei den bekannten türkischen Zuständen wirklich vor, aber sehr oft steckt auch noch Gaunerei hinter dem Manöver. Einige Zeit lang giebt sich der Zabtieh mit dieser Antwort zufrieden; aber schließlich hat er nichts mehr zum leben. Dann ist er gezwungen, um nicht vor Hunger zu sterben, seine Anweisung an einen Zwischenhändler für die Hälfte des Wertes zu verkaufen. Gerade dieses wollte der Kassierer, der nun den Besuch des Zwischenhändlers erhält und sogleich das erforderliche Geld zur Hand hat. Die Anweisung wird bezahlt und der Unterschied zwischen dem Kassierer und seinem Helfershelfer geteilt.

Dieses großartige Betrugssystem ist übrigens weit verbreitet. In Bitlis erzählte uns der erwähnte Ingenieur, daß er oft genötigt gewesen sei, seine auf tausend Piaster lautende Anweisung zu siebenhundert Piastern an einen kurdischen Zwischenhändler zu verkaufen.

  1. Die Terpentinbäume tragen Mandeln, deren Öl zur Seifenfabrikation benutzt wird. Der Baum sieht ähnlich aus wie ein Nußbaum; aber die kleinen Äste sind gekrümmter und im Verhältnis zu ihrer Länge auch dicker als die des Nußbaumes.
Empfohlene Zitierweise:
Paul Müller-Simonis: Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen. Verlag von Franz Kirchheim, Mainz 1897, Seite 239. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Vom_Kaukasus_zum_Persischen_Meerbusen.pdf/261&oldid=- (Version vom 1.8.2018)