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seßhafter Stämme. Die wirkliche Mitte ihres Gebietes findet sich indes auf dem Plateau von Wan; aber ihr Gebiet, das sie durchstreifen, ist ungeheuer. Die Gegend, die sie ohne Auflösung des Zusammenhanges einnehmen, reicht von Hamadan bis Aintab und ist wenigstens tausend Kilometer lang und zweihundertfünfzig Kilometer breit.

In den Thälern, wo sie in kompakten Stämmen zusammenwohnen, besonders in dem Becken des großen Zab, bilden sie eine ziemlich mächtige Nation, die den Ehrgeiz besitzt, einen besonderen Staat zu bilden.[1] Aber ihre Einteilung in Klane, ihre abenteuerlichen Gewohnheiten, selbst die Gestaltung ihres Terrains widersetzen sich der Bildung einer wirklich kurdischen Nation. Jeder Stamm ist eifersüchtig auf seinen Nachbar, und wenn ein etwas mächtiger Klan einen gewissen Einfluß auf einige andere Klane ausübt, ist dieses Bündnis doch immer sehr unsicher, es entsteht und löst sich wieder auf durch Bürgerkriege. Auch die gänzliche Ohnmacht der türkischen Regierung erklärt sich nur durch die bedeutende Unabhängigkeit, deren sich heute noch eine große Zahl dieser Stämme erfreut.

Die Einteilung der kurdischen Stämme ist sehr unsicher, selbst die Namen der einzelnen Stämme sind nicht immer mit Bestimmtheit anzugeben; es genügt oft, daß ein Chef sich einen besondern Beinamen zulegt, damit sein Name auf den Stamm übergeht, wodurch dann große Konfusionen entstehen. Missionare, die sich lange Zeit in jenen Gegenden aufgehalten haben, haben eine Einteilung versucht.

Pater Garzoni teilte die Kurden in fünf große Zweige:

  1. Kurden von Bitlis (Bitlisi);
  2. Kurden von Dschesireh (Bohtan);
  3. Kurden von Ahmadiah (Bahdinan);
  4. Kurden von Dschulamerik (Schamto, Hakkiari);
  5. Kurden von Karak’olan (Suleimanieh, Sorân).[2]

Die militärischen Expeditionen der Türken nach Kurdistan von 1820 bis 1840 scheinen die Macht der Kurden so weit gebrochen zu haben, daß sie keine Überfälle mehr wagen; aber innerhalb der Grenzen des Gebietes, die oben erwähnt worden sind, entstehen doch noch kleinere Kämpfe und Raubzüge gleichsam unter den Augen des Sultans. Die Türkei hat die Unterwerfung der Kurden bloß begonnen, aber sie besitzt die Energie nicht, die Unterwerfung zu vollenden.

19. Dezember. Abreise 6½ Uhr.

Das Wetter hatte sich während der Nacht beruhigt, und durch die Unterstützung eines frischen Nordostwindes konnten wir mit Tagesanbruch die Anker lichten. Die Sonnenstrahlen glänzten in herrlicher Weise regenbogenartig auf den schneeigen Gipfeln des Dschudi-Dagh. Diese den Europäern beinahe ganz unbekannten Gebirge

  1. Kurdische Bevölkerung (annähernd):
    türkisch Kurdistan und Klein-Asien: 1300000
    Persien: 500000
    Afghanistan und Beludschistan: 5000
    russisches Transkaukasien: 13000
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    1818000

    (E. Reclus, Geogr., IX. 342).
  2. Ritters Erdkunde IX. 630.
Empfohlene Zitierweise:
Paul Müller-Simonis: Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen. Verlag von Franz Kirchheim, Mainz 1897, Seite 260. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Vom_Kaukasus_zum_Persischen_Meerbusen.pdf/284&oldid=- (Version vom 1.8.2018)