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Sechs Kilometer weiter von der Station Kasbeck mündet das Thal der Amilitschka in das Thal des Terek. Der große Gletscher Dewdorawki, einer der acht Gletscher des Kasbeck, nimmt den oberen Teil des engen Thales, das ihm als Abzugskanal dient, in Anspruch; anstatt zurückzuweichen wie die anderen Gletscher des Kaukasus, bewegt er sich unaufhaltsam gegen das Thal des Terek vorwärts. (Ähnliche Beobachtungen hat man auch in den Alpen gemacht.) Aber das Thal der Amilitschka ist zu eng, um diese Menge von Eis durchzulassen; daher kommt es, daß dieses sich zuweilen zu einem ungeheuren Damme von mehr als zweihundert Meter Höhe längs der Thalwände erhebt. Wenn nun der Druck der zurückgehaltenen Wassermengen zu beträchtlich wird, weicht der Damm, und alles — Wasser, Eis und Steine — stürzt in die schräg ansteigende Schlucht der Amilitschka und hemmt den Lauf des Terek. Diese Masse erinnert dann nicht mehr im entferntesten an den Anblick des Gletschers. Seit 1776 ist dies sechsmal geschehen. Das Getrümmer des letzten Einsturzes im Jahre 1832 schloß das Thal des Terek auf eine Strecke von zwei Kilometer Länge und hundert Meter Höhe. Der Strom, der früher in solchen Fällen mehrere Tage zurückgehalten ward, blieb jetzt nur acht Stunden stehen, in welcher Zeit er sich eine sehr große Höhlung durch die Masse gewühlt hatte. Der Inhalt dieser Massen ward auf sechzehn Millionen Kubikmeter berechnet, und zwei Jahre waren notwendig, ehe alles Eis geschmolzen war. Von 1863 bis 1876 war der Gletscher 230 Meter vorgerückt. Bis jetzt steht den russischen Ingenieuren kein Mittel zu Gebote, um die Straße vor diesen Gefährlichkeiten zu schützen.

Ungefähr in gleicher Höhe beginnen die berühmten Schluchten von Darial. Früher hießen sie die kaukasischen Pforten. Mit Recht trugen sie diesen Namen; denn sie sind in Wirklichkeit natürliche Schutzmauern für die Hauptstraße des Kaukasus und bestehen nur aus Anhäufungen gewaltiger Basalt-, Granit-, oder Porphyrfelsen, zwischen denen sich der Terek schäumend seinen weg gebahnt hat. Kaum erblickt man in den Felsspalten einige verkrüppelte Bäumchen. Die Straße ist fast ganz in den Felsen eingehauen; jede ihrer plötzlichen Windungen bietet dem Auge des Reisenden einen andern Blick auf die Schluchten, die in Wahrheit das Prädikat „schauerlich-schön“ verdienen. Das Thal des Hinterrheins, das bei seiner stärksten Verengung den Namen Via mala hat, durch welche die Splügenstraße führt, ist zwar malerischer, aber in Hinsicht auf Großartigkeit kann es mit diesen Schluchten keinen Vergleich bestehen. Nur das Thal des Yo-Semiti in Kalifornien könnte ihnen zur Seite gestellt werden. Aber dort zeigen die gigantischen Granitfelsen, die sich senkrecht über das Thal erheben, eine außerordentliche Regelmäßigkeit der Formen; von ihren Gipfeln stürzen wunderbare Katarakte, welche der Wind in Nebelschleier auflöst. Ihr Aussehen ist herrlich; am Fuße breiten sich hundertjährige Wälder aus. Kein Wunder, daß der Reisende Neigung empfindet, den alten Indianerlegenden Gehör zu schenken, wonach der „Große Geist“ sich gern an diesem Orte aufhält. Hier aber ist das gerade Gegenteil der Fall; nichts als Chaos, Verwüstung, so daß man sich mit Dante an den Eingang des Infernum versetzt glaubt. Die Sonne dringt hier nur in die Schluchten, um die dunkelsten Schatten etwas zu zerteilen und dadurch die Rauheit und Wildheit der Landschaft noch mehr hervortreten zu lassen. Wir fuhren weiter, stets im Galopp, so daß der Kutscher

Empfohlene Zitierweise:
Paul Müller-Simonis: Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen. Verlag von Franz Kirchheim, Mainz 1897, Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Vom_Kaukasus_zum_Persischen_Meerbusen.pdf/40&oldid=- (Version vom 1.8.2018)