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11. September.

Am Morgen begann die lange Reise den Kiomiorlü hinauf inmitten der herrlichsten Buchenwälder; ein dicker Nebel, gepaart mit einer durchdringenden Kälte, erinnerte uns lebhaft an die Alpen. An der Poststation in Semenofka zeigte sich der Postmeister entgegen dem landesüblichen Brauch uns Fremden gegenüber sehr zuvorkommend und ließ uns sogar vor der Zeit abfahren.

Semenofka, Golovino, Delidschan, überhaupt fast das ganze Thal des Akstafa, sind von Dissidentenkolonien (Malakhanys) bewohnt. Zehn Minuten später erreichten wir den Paß des Kiomiorlü, der 2171 Meter hoch ist.

Dieser Paß bildet die geographische Grenze von Armenien. Armenien ist eines unserer Reiseziele; beim Überschreiten des Passes glaubten wir uns in eine neue Welt versetzt, so auffallend ist der Wechsel. Von jetzt ab passierten wir zwar mehr Wälder, genossen aber auch zugleich die wilde Rauheit der armenischen Gebirge.

Zu unsern Füßen breitet sich der See von Sewenga aus. Der Abstieg geschieht ungeheuer rasch. Der See selbst zeichnet sich durch seine hohe Lage aus. Er liegt nämlich 1932 Meter über dem Meeresspiegel, demnach über hundert Meter höher als der Rigi. Der See ist ganz von vulkanischen Bergen umgeben, ausgenommen nach Westen, wo ein Porphyrfelsen daran stößt. An seinen Ufern findet sich weder Baum noch Strauch, auch kein Dorf, ausgenommen auf einer kleinen Insel, wo einige Pappelbäume stehen, die hier zu den größten Seltenheiten gehören. Im Persischen heißt der See Derya-schnryn (süßes Meer), im Armenischen Kegham, die Russen nennen ihn Goktscha. Er ist der Lychnites des Ptolomäus. Von den neuern Reisebeschreibern ist Chardin der erste, der von dem See aus eigenem Anblick schreibt. Bis zu Anfang dieses Jahrhunderts ist er meist mit dem Wansee verwechselt worden, wozu wohl auch der Umstand beitrug, daß man die Kura mit dem Aras irrtümlich vertauschte, wie Le Bruyn es thut.

Bei dieser Jahreszeit stimmt der völlige Mangel an Grün die Landschaft sehr traurig, denn die Sonnenhitze hat alles versengt.

Der See von Sewenga ist ungefähr zweiundeinhalbmal so groß als der Genfer-See: dieser hat 573 Quadratkilometer, jener aber 1398 Quadratkilometer Oberfläche. An seinem großen Umfange giebt es nach der russischen Generalstabs-Karte bloß achtzehn Dörfer an dem Ufer des Sees. Und auch diese treten in dem ganzen Panorama nicht wesentlich hervor; zunächst sind sie klein und etwas verborgen, dann sind ihre Häuser aber auch niedrig und heben sich so wenig von dem Grau der Berge ab, daß das Auge auf den ersten Blick hin nur eine vollständige Wüste gewahrt. Das ganze Landschaftsbild macht durch die Nacktheit einen ungemein melancholischen Eindruck.

Das Kloster von Sewenga ist auf einer kleinen Insel errichtet, die ein wenig vom Ufer entfernt liegt. Die Insel ist kegelförmig und besteht aus vulkanischen Massen. Wir gaben Salven ab, um die Barke des Klosters dadurch herbeizurufen. Nach längerem vergeblichen Warten gab uns ein Vorbeikommender den Rat, bis

Empfohlene Zitierweise:
Paul Müller-Simonis: Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen. Verlag von Franz Kirchheim, Mainz 1897, Seite 33. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Vom_Kaukasus_zum_Persischen_Meerbusen.pdf/53&oldid=- (Version vom 1.8.2018)