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Endlich entschlossen sich zwei, Sinan-Ibn-Arwa und Schumur-Sil-Djowschun, durch das Versprechen einer großen Belohnung aufgestachelt, ihn zu enthaupten. Schumur verhüllte sich das Gesicht. „Wer bist Du?“ schrie Hussein, „nimm den Schleier fort!“ Schumur gehorchte. „Warte einen Augenblick!“ fuhr Hussein fort, „es ist heute Freitag[1] der zehnte Tag des Monats Moharrem. und gerade die Stunde des Gebets, Lasse mich noch einige Augenblicke leben, damit ich noch ein Gebet sprechen kann!“ Nach diesen Worten kniete er nieder. Die Mörder benutzten den Augenblick und trennten ihm das Haupt vom Rumpfe.

Die Mörder entrissen nun den Aliden die Herrschaft; aber die Nachkommen der letztern blieben am Leben und führten den Streit fort, den sie sowohl auf das religiöse als auch auf das politische Gebiet übertrugen. Die arabische Dynastie der Latimiden (909– 1171) behauptete von Ali abzustammen. Persien wurde nun für die Folge der Zufluchtsort der religiösen Parteigänger Alis, die den Namen Schiiten bekamen. Sie verwarfen die Khalifen vor Ali als Ursurpatoren; ihre Lehre ist scheinbar orthodoxer als die der Sunniten, die mit der Aufeinanderfolge der Khalifen einverstanden sind.

Die Schiiten lebten ziemlich verborgen bis zum 14. Jahrhundert, wo Sefsi-ed-Din die Sekte bedeutend ausbreitete; sein Enkel Ismael zog aus den Verfolgungen, die von den sunnitischen Nachkommen Timurs gegen sie ausgeübt wurden, Nutzen, indem er den Patriotismus mit der Religion vereinigte und so die Revolution hervorrief, wodurch die tartarische Dynastie vertrieben wurde. Zu derselben Zeit entstand der unheilbare Riß zwischen Sunniten und Schiiten, zwischen Türken und Persern.

Das Fest, dem wir beiwohnten sollten, hat den Zweck, das Gedächtnis dieser Ermordeten und die Scheidung der zwei bedeutendsten mohammedanischen Sekten zu feiern.

Das genannte Fest wird von den muselmännischen Schiiten während der ersten zehn Tage des Monats Moharrem gefeiert. In den ersten neun Tagen bringen die „Gläubigen“, besonders die Tartaren die Abende mit wahnsinnigem Springen und Schreien zu. Die Zeremonie, der wir in der grünen Moschee in Eriwan beigewohnt hatten, und die Prozession mit den Fackeln, die wir dort des Abends gesehen hatten, bildeten einen Teil der Zeremonien in den ersten neun Tagen.

Während dieser Zeit beobachten die „Gläubigen“ auch ein strenges Fasten; das heißt, von Sonnenaufgang bis zum Untergang essen sie weder noch trinken oder rauchen sie; aber während der Nächte entschädigen sie sich reichlich. Die Leiden der Imams (der Priester) bilden den Gegenstand der Geheimnisse, die man während der neun Tage feiert. Den feierlichsten Gegenstand bewahrt man für den zehnten Tag auf, nämlich das Gedächtnis des Todes Husseins, welches dann alle Köpfe erfüllt.

Während der ersten neun Tage unternehmen die Mohammedaner Prozessionen durch die Orte, indem sie Klagelieder singen und ihren Gesang mit taktmäßigem Schlagen auf die Brust begleiten. Beim Herannahen des Abends führen die Tartaren ihre Prozession mit Fackeln und unter wahnsinnigem Springen aus. Auf diese Weise bezeigen sie ihren Schmerz, und um den Verrat der ersten Muselmänner auszugleichen, paradieren sie mit dem Mut, der sie beseelt, und mit dem Verlangen,

  1. Bekanntlich der heilige Tag der Mohammedaner.
Empfohlene Zitierweise:
Paul Müller-Simonis: Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen. Verlag von Franz Kirchheim, Mainz 1897, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Vom_Kaukasus_zum_Persischen_Meerbusen.pdf/74&oldid=- (Version vom 1.8.2018)