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das sie erfüllt, selbst mit dem Preise ihres Lebens ihren Glauben und ihre Priester zu verteidigen.

Die russische Regierung sah von jeher diese nächtlichen Versammlungen höchst ungern. Oft dienen sie unter dem religiösen Vorwande blutigen Zusammentreffen, bei denen Privatstreitigkeiten zuweilen zum Austrag kommen. Die russische Regierung hat zwar versucht, diese Versammlungen zu untersagen, aber es gelang ihr nicht. In Eriwan sagte uns der Polizeichef des Morgens, es fände keine öffentliche Zeremonie statt; die Tagesprozession fiel auch aus; aber die Prozession mit den Fackeln konnte die Polizei des Abends nicht verhindern. Der Unterchef der Polizei aber, der in unserm Hotel wohnte und selbst ein Mohammedaner war, zeigte nicht die geringste Lust, seine Glaubensgenossen gegen sich aufzureizen. Daher hatten wir Gelegenheit, dem letzten Akte dieses Dramas beizuwohnen.

Wir verfügten uns eiligst nach dem andern Ende der Stadt in das südliche Viertel in die Nähe des Palastes der alten Khane, wo die Zeremonien stattfinden sollten. Die ganze Einwohnerschaft war auf den Beinen. Auf den Kreuzwegen befanden sich Ruheplätze, um welche Kinder tanzten. Knaben von sechs bis sieben Jahren schwingen nackte Schwerter, um sich Mut zu verschaffen. Einige Derwische sammelten Zuhörer, denen sie dann eine Predigt hielten.

So kamen wir zum Khanspalast. Ein achteckiger Turm, der freilich schon halb in Trümmern liegt, bietet ein interessantes Denkmal der persischen Baukunst.

Die Mitte jeder Seite wird von einer Nische eingenommen, die mit Fayencearbeit geschmückt ist. Das obere Ende des Turmes trägt einen Fries, auf dem sich eine kufische Inschrift mit Buchstaben aus Fayence in sehr schönen Formen befindet. Ornamente derselben Art bedecken jede Ecke an dem Turme. An der Seite verdient ein von zwei Minarets flankierter Portikus auch einige Beachtung.

Während wir noch dieses Baudenkmal bewunderten, gelang es unserem Freunde Hyvernat, die Bekanntschaft Rahim-Khans, des Eigentümers der Ruinen, zu machen. Rahim ist ein Nachkomme der alten Khane von Nakhitschewan. wiewohl er das politische Ansehen seiner Vorfahren eingebüßt hat, übt er doch in dem täglichen Leben der Stadt noch einen großen Einfluß aus. Er ist ein russifizierter Tartar und trägt die unvermeidliche weiße Mütze (mit einer Kokarde), auch spricht er etwas französisch. Er lud uns ein, sein ganz in der Nähe gelegenes Palais zu besuchen. Bei unserem Eintritt zogen sich die Damen des Hauses, die ein sehr kurzes Kleid nach Art der Balletttänzerinnen tragen, selbstverständlich zurück, aber doch nicht mit der Eilfertigkeit, die durch die Gegenwart der Ungläubigen von dem schiitischen Glauben vorgeschrieben wird.

Das Palais an und für sich ist vollständig unbedeutend; aber von seiner Terrasse hat man eine der schönsten Aussichten der Welt. Die Terrasse beherrscht das weite Thal des Aras, und der Blick ruht auf dem entfernten, unvergleichlichen Ararat. Von Nakhitschewan aus gesehen, präsentiert sich der Ararat unter den anmutigsten Formen. Der kleine Kegel liegt vollständig wider dem großen, so daß man nur einen einzigen schlanken, majestätischen Berggipfel sieht. Die Wärme des Tages gab der Atmosphäre jene besondere Schwingungen, wie sie nur im Orient gekannt werden, und die weiße Schneekappe des Ararat schien in der Luft zu schwimmen.

Empfohlene Zitierweise:
Paul Müller-Simonis: Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen. Verlag von Franz Kirchheim, Mainz 1897, Seite 55. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Vom_Kaukasus_zum_Persischen_Meerbusen.pdf/75&oldid=- (Version vom 1.8.2018)