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Sprachfähigkeit ist das Vermögen, seine Gedanken willkürlich zu bezeichnen. Ich drücke mich absichtlich so allgemein aus, damit man nicht gleich an eine Sprache für das Gehör denke. Von der Ursprache läßt sich gar nicht behaupten, daß sie bloß aus Tönen bestanden habe, bloß Gehörsprache gewesen sei. Diese leztere kann erst weit später entstanden sein, und läßt sich nur unter Voraussetzung der Ursprache, und auf eine weit verwickeltere Art deduciren.


Die Frage, die sich uns zunächst darbietet, ist folgende: Wie ist der Mensch auf die Idee gekommen, seine Gedanken durch willkürliche Zeichen anzudeuten? Diese enthält unter sich folgende zwei: 1) Was brachte den Menschen überhaupt auf den Gedanken, eine Sprache zu erfinden? 2) In welchen Naturgesetzen liegt der Grund, daß diese Idee gerade so und nicht anders ausgeführt wurde? Lassen sich Gesetze auffinden, welche den Menschen bei der Ausführung leiteten?


Ich mache mich deutlicher. Die Sprache ist das Vermögen, seine Gedanken willkürlich zu bezeichnen. Sie setzt demnach eine Willkür voraus. Unwillkürliche Erfindung, unwillkürlicher Gebrauch der Sprache enthält einen innern Widerspruch. Man hat sich zwar auf unwillkürliche Töne beim Ausbruch der Freude, des Schmerzes u. s. w. berufen, und daraus gar manches über Erfindung und Gesetze der Sprache ableiten wollen; aber beides ist völlig verschieden. Unwillkürlicher Ausbruch der Empfindung ist nicht Sprache.

Empfohlene Zitierweise:
Johann Gottlieb Fichte: Von der Sprachfähigkeit und dem Ursprung der Sprache. Hofbuchhändler Michaelis, Neu-Streelitz 1795, Seite 258. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Von_der_Sprachfaehigkeit_und_dem_Ursprung_der_Sprache_258.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)