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Die Uebertragung sinnlicher Zeichen auf übersinnliche Begriffe ist indeß Ursache einer Täuschung. Der Mensch wird nämlich durch diese Bezeichnungsart leicht veranlaßt, den geistigen Begriff, welcher auf eine solche Weise ausgedrückt worden ist, mit dem sinnlichen Gegenstande, von welchem das Zeichen entlehnt wird, zu verwechseln. Der Geist wurde z. B. durch ein Wort bezeichnet, welches den Schatten ausdrückt: sogleich denkt sich der ungebildete Mensch den Geist als etwas, das aus Schatten bestehe. Daher der Glaube an Gespenster, und vielleicht die ganze Mythologie von Schatten im Orcus.


Die Täuschung war aber unvermeidlich; man konnte jene Begriffe nicht anders bezeichnen. Wer demnach seine Denkkraft noch nicht genug geübt hatte, um dem gebildeten Geiste des Forschers, der zuerst jene geistigen Ideen in sich entwickelte, in seinen schärfern Abstractionen folgen zu können, der konnte auch unmöglich den Sinn fassen, in welchem jener die bildlichen Ausdrücke verstand. Ein solcher glaubte also, es wäre bloß von den sinnlichen Gegenständen, von welchen die vorgetragenen Zeichen entlehnt waren, die Rede, und dachte sich also die geistigen Gegenstände sehr materiell. — Daher entsteht auch nicht aller Aberglaube durch Betrügerei, sondern dadurch, daß geistige Ideen nicht anders, als durch sinnliche Worte ausgedrückt werden konnten, und daß derjenige, der sich nicht bis zum Bezeichneten erheben konnte, bei dem ersten rohen Zeichen stehen blieb.

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Johann Gottlieb Fichte: Von der Sprachfähigkeit und dem Ursprung der Sprache. Hofbuchhändler Michaelis, Neu-Streelitz 1795, Seite 301. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Von_der_Sprachfaehigkeit_und_dem_Ursprung_der_Sprache_301.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)