Seite:Von der Sprachfaehigkeit und dem Ursprung der Sprache 314.png

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war kein Activ, sondern alle Zeitwörter blieben, was sie ursprünglich waren — Neutra.


Um die Entstehung des Passivs zu erklären, muß ein Bedürfniß aufgezeigt werden, welches die Menschen zur Erfindung dieser Sprachbestimmung leitete; denn, daß in der Ursprache irgend etwas ohne Noth, bloß zur Verschönerung des Vortrags erfunden worden sei, läßt sich nicht annehmen. Um diese möchte man sich wohl bei den ersten rohen Versuchen einer Sprache nicht sehr bekümmert haben; da sagte man wohl eher: man schmähet mich, als — ich werde geschmähet; der Löwe zerreißt das Schaf, als — das Schaf wird vom Löwen zerrissen.


Ein solches Bedürfniß des Passivs tritt ein, wenn eine Handlung vorkömmt, welche, nach unsern Einsichten, einen Urheber hat, den wir aber auf keine Weise entdecken können. Sie muß erstlich einen Urheber haben; denn hat sie keinen, oder können wir keinen annehmen, so drücken wir uns durch das Impersonale aus — wir sagen: es donnert, regnet, u. s. w. Zweitens muß der Urheber unbekannt sein, und gar nicht errathen werden können; denn, gesetzt der Wolf hätte ein Schaf geraubt, so wird der noch ungebildete Naturmensch, auch selbst wenn er nicht Augenzeuge von dem Vorgange gewesen ist, doch nicht sagen: das Schaf ist mir geraubt worden; sondern: der Wolf hat das Schaf weggenommen; weil er schon aus Erfahrung weiß, daß dieser Schafe raubt. Das Bedürfniß des Passivs

Empfohlene Zitierweise:
Johann Gottlieb Fichte: Von der Sprachfähigkeit und dem Ursprung der Sprache. Hofbuchhändler Michaelis, Neu-Streelitz 1795, Seite 314. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Von_der_Sprachfaehigkeit_und_dem_Ursprung_der_Sprache_314.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)