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98. Die rätselhafte Holzfigur im Ratskeller zu Pulsnitz.

Ein interessantes und sehr sehenswertes Gebäude der Stadt Pulsnitz ist das am Marktplatze stehende Rathaus. Dasselbe gehört zu den ältesten Gebäuden der Stadt; denn es wurde im Jahre 1555 erbaut und ist noch heute recht gut erhalten. Noch lange wird es seiner Bestimmung dienen können. – Mit der Giebelseite ist das Rathaus, wie noch so manches Nachbargebäude, dem Marktplatze zugekehrt. Die Eingangstür zeigt gotischen Stil. Hinauf zu ihr führen vom Markte aus eine Anzahl Stufen. Es fehlen am Eingange auch nicht die steinernen Sitzplätze. Ueber dem Eingange befinden sich ein Wappenbild, eine Bärenklaue, und die Zahl 1555, das Jahr der Erbauung. Die Decken im Innern zeigen starkes Balkenwerk.

In der Gaststube des Ratskellers befindet sich an der Decke ein an Ketten hängendes und mit großen Hirschgeweihen eingefaßtes hölzernes Brustbild in Eichenfarbe. Die Figur zeigt einen langen, schwarzen Bart, bildet eine Art Kronleuchter und mag früher auch als solcher benutzt worden sein. Diese rätselhafte Holzfigur wird von der Sage umrankt, und man weiß allerlei Interessantes zu erzählen. Seit Jahrhunderten hängt das hölzerne Schnitzwerk an der Decke der Wirtsstube. Dasselbe darf nicht von seinem Platze entfernt werden; denn sonst rumort und poltert es so lange im Gebäude, bis man die Figur wieder an Ort und Stelle gebracht hat. – Der Volksmund bezeichnet diese Holzfigur als den „alten Schlieben“, auch als den „wilden Mann“ oder als den „Heidut.“ Wie die eine Sage berichtet, wäre der alte Schlieben ein großer Wohltäter der Stadt Pulsnitz gewesen. Derselbe habe das Rathaus erbaut und viel Gutes den Bürgern getan. Aus Dankbarkeit hätten die Väter der Stadt sein Bildnis zur bleibenden Erinnerung aus Eichenholz schnitzen und an jener Decke anbringen lassen. Nach der anderen Sage stelle das Bild den wilden Mann oder den Heidut vor. Der Heidut wäre ursprünglich ein recht frommer Mann gewesen, der den Armen zu Pulsnitz viel Gutes getan habe. Die Kirche und ihre Diener hätte er reichlich bedacht. Später sei aus ihm aber ein gar arger Gottesleugner und Gotteslästerer geworden, dessen Aufenthalt nicht mehr die Kirche, wohl aber das Wirtshaus wurde. Hier verbrachte er die Zeit mit Trinken, Schlemmen und Prassen. Um ihn scharten sich bald gleiche Gesellen. Während des Gottesdienstes trieb Heidut es am schlimmsten. Im Wirtshause war es auch, wo er bei einem wüsten Gelage während des Gottesdienstes plötzlich seinen Geist aufgab. Wie die Leute erzählten, habe der Teufel ihm den

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Friedrich Bernhard Störzner: Was die Heimat erzählt. Arwed Strauch, Leipzig 1904, Seite 219. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Was_die_Heimat_erz%C3%A4hlt_(St%C3%B6rzner)_219.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)