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nach. Da eilte diese durch die mondhelle Nacht am Ufer der Spree hin über Steine, durch Gestrüpp. Da, wo die Felsen steil zum Fluß abfallen, stieg sie ein wenig bergauf. Steinerne, unbehauene Stufen führten durch dichtes Gebüsch zu einer Höhle, in der ein mattes Licht brannte. Mirjam rief leise, da erschien der alte Jude Daniel am Eingange. Seine Glieder zitterten mehr als früher, und seine Gestalt war gebeugter geworden. Schweigend nahm er die Lebensmittel, die seine Enkelin ihm brachte. Fledermäuse und Eulen streiften lautlos am Felsen hin. In der Höhle tropfte eintönig das Wasser von der Wölbung. Mirjam sprach: „Die Nacht ist kühl, Großvater!“ und streichelte scheu seine erstarrten Hände. „Sieh’, es ist wieder Ruhe in der Stadt, komm’, ich führe dich in unser behagliches Haus! Ich rufe Margarete zurück, da sollst Du wieder leben wie einst und nicht einem Toten im Grabe gleich sein.“

„Ich bleibe hier!“ entgegnete der Greis mit einem Lächeln, vor dem das Mädchen erbebte. „Ich werde bald ganz tot sein, da versperre ich die Höhle mit Steinen, daß ich ruhig schlafen kann bei meinem lieben Gold. Wohl hast du’s verschmäht, aber nimm, soviel Du vermagst.“ Als Mirjam sich nicht rührte, schwoll die Zornesader auf seiner Stirn, und seine Augen funkelten. Da ergriff Mirjam ein Kästchen, das sie wohl kannte. Viele Schuldscheine lagen darin, auch der von Veit war dabei. Sie nahm einen nach dem andern heraus und riß ihn entzwei. Dann küßte sie des Großvaters Hand und dankte für sein Geschenk. „Närrin!“ murmelte er. Mirjam ging traurig von dannen, und Veit folgte ihr von ferne. Als sie am nächsten Abend zur Höhle kam, saß ihr Großvater in einem kostbaren Mantel auf einem Stein im Hintergrunde der Höhle. Nachttau lag auf dem weißen Haupte, das tief auf die Brust gesunken war. Die Lider bedeckten die gebrochenen Augen. Gold lag in seinem Schoß. Seine Hände hatten es krampfhaft gefaßt. Er war tot. Mirjam sank an seiner Seite nieder, sie schmiegte ihre Wangen an seine Schulter, und ihre Tränen flossen auf die Goldstickerei des Mantels. Nun war der letzte ihres Namens fortgegangen und hatte sie allein gelassen. Und doch fühlte sie sich nicht verlassen, ein neues, reiches Leben war ihr aufgeblüht mitten in Tod und Elend und hatte ihr den Frieden ihres Herzens gebracht.

Sie mochte wohl lange so geweint haben. Drüben über der Spree krähte ein Hahn, und ein kühler Wind vom dämmerigen Osten löschte das Lämpchen aus, das schwankend an eiserner Kette von der Decke herabhing. Sie erhob sich rasch, um zu gehen. Da stand Veit Winkler vor ihr. „Ich hatte Angst um Dich!“ sagte er ruhig, „so lange warst Du noch nie aus.“ Sie nahm ihn an der Hand und führte ihn zu dem Toten und teilte dessen Wünsche dem Freunde mit. Veit wälzte mit starker Hand Steine vor die Türe der Höhle, und Mirjam verdeckte sie mit Buschwerk. So begruben sie ihn, wie einst die Väter im Morgenlande, in der Tiefe des Felsens, verborgen vor der Welt. Auf dem Wartturm der Ortenburg stieß eben der Wächter ins Horn und begrüßte so den neuen Tag. Als dann die Sonne in hehrer Pracht aus dem Purpurgewölk aufstieg, fielen ihre ersten Strahlen auf zwei glückliche Menschenkinder, die Hand in Hand am hohen Ufer der Spree entlang gingen. Es hingen wohl Tränen in den langen Wimpern des Mädchens, aber aus den schönen Augen leuchtete Glück und Freude. –

Endlich im Herbst kam der Tag, wo der letzte Kranke genesen das Pesthaus verlassen konnte. Vater Heinrich schnürte sein Bündel, um zu anderen Elenden zu gehen, wie er’s gewohnt war. Veit Winkler hatte seinen Krämerladen wieder schön vorgerichtet und die Wohnung geschmückt. Es

Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Bernhard Störzner: Was die Heimat erzählt. Arwed Strauch, Leipzig 1904, Seite 519. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Was_die_Heimat_erz%C3%A4hlt_(St%C3%B6rzner)_519.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)