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Franz Werfel: Wir sind. Neue Gedichte.

Lesbierinnen

Wenn abends Heimkehr endlos durch die Gassen geht,
Erhebt ihr euch von eurem täglichen Gerät.
Zwei süße Näherinnen, noch vom Radgesang umspült,
Jetzt wandelt ihr, von Wind und Müdigkeit gekühlt.

5
Entfacht daheim, ihr Kinder, euren Samowar

Und löst das leichte luftverspielte Haar!
Wie ruht der kleine Mond- und Lampenkreis
Auf Wand und Boden eures Zimmers weiß?

Nun gebt den Glanz der langen Glieder frei,

10
Umschlingt euch langsam, haltet euch ihr Zwei

Und zu des Himmels nachtverebbtem Strahl
Schweb’ eurer Küsse schwärmerische Zahl!

Für andre zieht nach Arbeits Fluch und Pein
Ein Abend blaß und voller Armut ein.

15
Wenn alle an zerwalkten Tischen stehn,

Euch ist bereitet Schönheit und Vergehn.

Nun geht im Haus der biedere Verräter um,
Die Nachbarinnen sind euch höhnisch stumm.
Doch ist auf jeder Lippe Tod und Rache da,

20
(Ha, der verruchten Küsse angeklagte Kette!)

Schlaft ein,
Schlaft ein in eurem Bette!
Dem tausendfachen Geist der Liebe seid ihr nah.

Empfohlene Zitierweise:
Franz Werfel: Wir sind. Neue Gedichte.. Kurt Wolff Verlag, Leipzig 1913, Seite 28. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Werfel_Wir_sind_1913.pdf/28&oldid=- (Version vom 1.8.2018)