Seite:Westphälische Sagen und Geschichten 137.png

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wohl stammen möge. Einige hielten ihn für einen Sprößling des alten, edlen römischen Geschlechts der Anlier; Andere sagten, er stamme von einer berühmten Trojanischen Familie ab; noch Andere glaubten, er sey ein edler Fürst Griechenlands, der an der Ermordung des Kaysers Justinian des II. Antheil gehabt, und daher sein Vaterland habe verlassen müssen; die Meisten aber behaupteten, man könne seinen Ursprung und seinen Stamm mit Gewißheit nicht angeben, indem er aus dem irdischen Paradise herstamme, und zum Heil der Christenheit in diese Gegend gekommen sey.

Während so die Bewohner Cleves, seiner harrten, und sich von ihm unterhielten, saß die einzige, verlassene Tochter des Grafen Theodorich einsam in ihrem Gemache auf der Burg zu Cleve, und sah ebenfalls den Rheinstrom hinab, aber mit ganz anderen, nemlich mit sehr peinlichen schmerzhaften Gefühlen. Der heutige Tage war der Schlüssel zu einer dunklen Zukunft, der sie jetzt entgegenschritt. Nur zwey Wege blieben ihr offen: entweder sich der Gnade des neuen Herrn des Landes zu unterwerfen, oder ihre Tage zwischen dumpfen Klostermauern zu beschließen. Sie kämpfte lange, aber der Entschluß für das Klosterleben siegte; wie konnte die Tochter Theodorichs da abhängig und vergessen leben, wo man bisher nur ihre Winke als Befehle gekannt hatte!

Wie sie nun so saß und in Betrachtungen über ihr Schicksal verlohren, auf den Fluß zu ihren Füßen hinunterblickte, wurde auf einmal die laute Menge stumm, alles Gespräch stockte, und alle Gesichter wandten sich nach Einem Gegenstande, den Strom hinauf. Auch die Gräfin Beatrix sah dahin und ihr Auge blieb gefesselt

Empfohlene Zitierweise:
H. Stahl alias Jodocus Temme: Westphälische Sagen und Geschichten. Büschler'sche Verlagsbuchhandlung, Elberfeld 1831, Seite 137. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Westph%C3%A4lische_Sagen_und_Geschichten_137.png&oldid=- (Version vom 29.12.2019)